I Mitte November in S. Unter den Tritten knirschen die Blätter. Die Platanen in der Allee stehen mit blanken, nach oben gerichteten Säbeln, auf die Spitzen gespießt das jeweils letzte der Blätter, das in der Frühwintersonne den Absturz und die Vereinigung mit den schon Dahingegangenen geduldig erwartet. Eines ist immer das letzte. Die ersten haben Gideons Füße soeben zertreten. II Verfall läßt sich sehen und steigern, denn noch hat kein Regen, kein Schnee in diesem trockenen Herbst das Dorren der Blätter gestört; Erst kamen sie, ockerfarben getönt, zögernd zu Boden gesegelt, auch grüngelb meliert oder bräunlich schattiert. Bald aber hat sie Verwesung mit schwärzlichen Flecken gezeichnet. Tage danach ist braun geworden, was gelb war, gänzlich, halb oder zu kleineren Teilen —, Blätter im Narrenko stüm Gumemanz', abgetrieben von Heimat und Halt, raschelnde Einfalt auf dem Ritt in die Welt —, Colombin, die Schmerzen vergessend, die ihm der Reif in die Wangen gebrannt. Wie mag es sein, fragt Gideon sich, Saft und Gefühl zu verlieren, sich auf zubäumen, einzurollen, zu krümmen in der letzten Phase des Lebens? Kein Blatt ist so wie das andere, jedes hat seine eigene Gestalt, seme eigene Verwandlung. Wieder sind Tage verstrichen. Nun sind viele der Blätter — die der Plata nen handtellergroß oder größer — zu braunen, ledernen Häuten gewor den, weich nur mehr im Zentrum, an den Rändern schon brüchig, der Stengel allein noch biegsam und zäh, als habe er Nahrung aus den Wur zeln des Baumes gespeichert, des Baumes, der stehen bleibt und bestehen wird in vielen, noch kommenden Jahren. Wie kann einer nur seine Kinder verstoßen und überleben? denkt Gide on. In jedem Herbst neu, den eigenen Frühling im Sinn? Schließen sich so viele Wunden so schnell? Leidet der Baum? Ist, weil er leidet, die grün liche Rinde vor Kummer geplatzt, zerplatzt zu Formen, die ein Puzzle vom Rätsel der Welt sind? Wo sind die fehlenden Teile? Gideon schleift zwei Furchen durch die Lagen der Blätter, die cross ge wordenen krachend zermalmend: Die erstbeste Brise wird die Fugen ver decken, denkt Gideon, seine Schleifspur betrachtend. Ein alter Mann, der Gideons Weg kreuzt, schwer und laut hörbar atmet, schüttelt mißbilligend seinen Kopf. III Überraschend fiel Schnee in der Nacht. Weiß liegen am Morgen die Wiesen, Wege und Straßen. Die Blätter hat Gideon aus den Augen verloren, vorübergehend zumin dest, denn bald schon wird er die von den Wegen und Straßen im zur Sei te geschobenen Matsch wiederfinden als Haufen von buntgesprenkeltem Grau. Herabgefegt von den Platanen die gestern noch auf den Säbelspitzen sit zenden Blätter, die sich mit ihrer letzten, topasenen Leuchtkraft ins Mo saik der Auflösung fügen. Andere, vom Wind auf die Wiesen getragen, bilden erdbraune Inseln im Weiß, oder ragen daraus hervor wie die Zin nen versunkener Liliput-Burgen. Und was Gideon noch vor kurzem an Säbel erinnerte, an Waffen und Wehrhaftigkeit, ist nichts als ein Bild der Ergebung, der Demut. „Das ist's, woran es der Welt heute mangelt: Demut!" Erschrocken wendet sich Gideon um und sieht sich jenem schwer atmen den Mann gegenüber, dem er schon einmal begegnet ist. Aus der Nähe bemerkt Gideon die bläulichen Lippen des Fremden. „Können Sie Gedanken lesen? oder habe ich laut gedacht?" fragt Gideon. „Weder, noch", antwortet keuchend der Mann. „Aber es genügt allein schon, zu denken. Vom Denken kommt alles Unheil." „Na,hören Siel" will Gideon protestieren, doch der Asthmatiker läßt ihn nicht weitersprechen. „Denken macht kritisch und schafft Menschen mit eigener Meinung. Und wer, ich bitte Sie, kann solche Menschen gebrau chen? Daher: Mehr Demut ist nötig!" So lange zu sprechen, hat den Mann sichtlich große Anstrengung geko stet. „Wessen Interessen vertreten Sie eigentlich?" fragt ihn Gideon. „Nur meine eigenen!" bringt der Mann mühsam, aber vergnügt hervor. „Glau ben Sie mir: Ich denke nie. Darum sorgt für mich der Wind!" Röchelnd knöpft der Fremde seinen Mantel auf und fliegt mit dem erstbesten Wind stoß davon. Wenn das so ist? denkt Gideon, spreizt seinen Mantel wie ein Segel aus und wartet. Der nächste Windstoß wirbelt weitere Blätter von den Bäu men, Gideon jedoch nimmt er nicht hinauf in die Lüfte. „Sie denken zu viel!" ruft es da heiser von oben. Erstaunt legt Gideon den Kopf zurück und erblickt den Asthmatiker, der über ihm eine Schleife zieht. Zu Mittag beginnt es zu tauen, zu tropfen, zu rinnen. Am Abend gefriert es. Der folgende Morgen starrt vor Kälte. Die Polyantherrosen haben Stuartkragen aus Eis: Frostige Schönheit, das Köpfchen geneigt, das Ende erwartend. IV Immer nackter werden die Bäume. Das Laub der Birken hat eine zart gel be Farbe angenommen und wirkt zerbrechlich wie Glas. Bizarrer Christ baumschmuck an dünnen Fäden, dem heiligen Abend vorwegge nommen. Die Hainbuchenhecken sind schütter geworden, xmd wo des Sommers der Zaunkönig im Verborgenen hüpft und nistet, klaffen Lücken, durch die Gideon den Weg auf der anderen Seite der Hecke sieht. Weitsicht! Darauf kommt's an! „Ein weit verbreiteter Irrtum!" läßt sich eine Stimme von oben verneh men. Gideon erkennt sie sofort. Der Asthmatiker hat sich in einer Astga bel niedergelassen. „Schauen Sie doch in die Weite! Was sehen Sie? Den Horizont. Zugegeben, es ist immer ein anderer, je nachdem, wie Sie Ihren Standpunkt verändern. Aber doch immer ein Horizont. Ihr Horizont! Glauben Sie mir, den werden Sie nie überwinden. Ihnen sind Grenzen gesetzt!" Der Mann hat mit Unterbrechungen, doch ohne Röcheln und Schnaufen gesprochen. „Sie reden zu viel. Und überhaupt: Welche Kunststücke machen Sie da? Ich denke, Sie leiden an Asthma?" „Jaja. Aber die Höhenluft tut mir gut." „Haben Sie nicht Angst, abzustürzen?" will Gideon wissen. Gideon versteht nicht, warum diese Frage den Asthmatiker so sehr be lustigt. „Abgestürzt bin ich schon einmal und das von sehr großer Höhe", kichert er hüstelnd. „Seither gehöre ich zu den Aufsteigern. Aber lassen Sie sich nicht stören in Ihren Betrachtungen. Ich habe Sie sofort durchschaut, schon als ich Sie das erste Mal traf. Sie sind ein Betrachter! Einer, der un ter allen Umständen denken und wissen will, Eigenschaften, die ins Un glück führen. Gehen Sie nur. Ich habe mit meinem Unglück genug." Die Erwähnung des eigenen und Gideons möglichen Unglücks lösen einen jener schrecklichen Asthmaanfälle aus, die Gideon bei seinem On kel erlebt hat und die ihm jedesmal panisches Entsetzen ob seiner eigenen Unfähigkeit zu helfen, eingejagt haben. Als er sieht, daß ihm der Fremde bedeutet, zu gehen und sich aus einer Sprühdose Linderung in den weit geöffneten Mund jagt, wendet sich Gideon ab, bis er außer Hörweite des pfeifenden Atems, Gurgeins und Keuchens ist. Wie auch hätte er dem in seiner Luftigkeit Thronenden helfen sollen? Nach einer Weile dreht sich 82
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