Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 4, 1986

Die bauliche Entwicklung von Wels in den Jahren 1880 bis 1914 Kurt Holter Die vergleichende Stadtgeschichtsforschung zeigt, daß die Entwicklung unserer Städte und Siedlungen keineswegs parallei verläuft, auch wenn sie unmittelbar benachbart sind. Höhepunkte und Stagnationen wechseln in durchaus individueiier Folge und man würde in die Irre gehen, wenn man den Entwickiungsverlauf einer Stadt ungeprüft auf ihre Nachbarn anwenden wollte. In den Jahrhunderten der Neuzeit hat Wels zwei einschneidende negative Entwicklun gen erfahren. Die gravierendste war der Brand der Vorstädte am 10. Oktober 1626 im Verlauf des großen oberösterreichischen Bauernkrieges, der die Stadt ihrer nördlichen und östiichen Vororte beraubte. Diese Kata strophe warf Wels gemeinsam mit den durch die Gegenreformation verursachten Abwan derungen und den daraus folgenden Verlu sten an Menschen und Kapital hinter die spätmitteialterliche Lage zurück. Als sich das Gemeinwesen nach den Franzosenkriegen im 19. Jahrhundert sehr langsam zu erholen begann, traf es 1850 ein neuer Schiag, der es zweier alter „Stadtviertel" und der damit ver bundenen Entwicklungsmöglichkeiten im Sü den der Traun beraubte. Wels war damit auf 3,12 km2 zusammengeschrumpft, ein ver schwindender Bruchteil der Stadtfläche zur Römerzeit und auch des Burgfrieds, den die Stadt im Mittelalter besaß. Die beiden Stadt pfarren betreuten zu dieser Zeit ein rund zehnmal so großes Gebiet, dessen Außenbe zirke freilich fast rein agrarisch beurteilt wer den müssen. Nach der Bevölkerungszahl lag Wels in Oberösterreich damals hinter Linz, Steyr und Bad Ischl an vierter Steile, gegen über Enns und Gmunden bestanden keine großen Unterschiede. Die liberale Ära und der damals erfolgte über durchschnittliche Aufschwung ist über ein halbes Jahrhundert von zwei vielseitig be gabten und umfassend politisch tätigen Bür germeistern bestimmt und getragen worden: von Dr. Franz Groß (1861—1887, mit einer Un terbrechung 1879—1883) und von Dr. Johann Schauer (1887—1914). Jeder der beiden hatte einen nicht weniger befähigten und tätigen beamteten Stadtrat zur Seite. Dr. Groß den Stadtrat August Göllerich (1860—1883), Dr. Schauer den Linzer Rechtsanwalt Dr. Franz von Benak (1887—1913). Sie alle waren über zeugte Träger des liberalen Gedankengutes, die ersten drei auch langjährig im Reichsrat in Wien als Abgeordnete tätig. Man darf aber nicht glauben, daß ihnen eine lethargische Bürgerschaft gegenübergestanden wäre. Eine politische Geschichte von Wels in diesem Sinne ist noch nicht geschrieben. Die Akten und Protokolle zeigen viele sehr positi ve Initiativen, so daß die „Ära Dr. Groß" und die „Ära Dr. Schauer" als Sammelbegriff für eine jeweilige Gruppe von Welser Bürgern verstanden werden muß, die sich mit Kopf und Herz für ihre Stadt einsetzten. Wenn man sich mit der Stadtentwicklung von 1880 bis 1914 befaßt, so entspricht dies der „Ära Dr. Schauer", deren Ende mit dem Be ginn des Ersten Weltkrieges zusammenfällt, der eine deutliche Zäsur gebracht hat. Doch ist es auch notwendig, rückschauend sich kurz der „Ära Dr. Groß" zuzuwenden, weil in ihr die Voraussetzungen geschaffen worden sind, nicht nur legistischer Art, wie etwa die Bemühungen um eine moderne Bauord nung, die im Gesamtrahmen der österreichi schen Länder zu betrachten ist. Beim Amtsantritt von Bürgermeister Dr. Groß beschränkte sich der bebaute Teil der Stadt auf zwei Hauptteile: erstens auf den Stadt kern innerhalb der Stadtmauern mit damals sechs Toren. Er zählte knapp zweihundert Häuser. Die Stadtmauern waren auf den Landseiten von einem vorgelegten Zwinger mit einer weiteren Mauer und einem tiefen Graben nach außen gesichert. Etwa gleich groß war der weite Komplex der Vorstädte, im Osten an der Fischer- und an der Linzergas se, im Norden der Vorstadtplatz Qetzt KaiserJosef-Platz), der eine geschlossene Nord front besaß. Vier mit Ausnahme der Bäcker gasse kaum besiedelte Gassen verbanden ihn mit dem Graben, an dem eine schüttere Häuserzeile lag. Im Westen befanden sich das Lederer- bzw. Gerberviertel, eine nur we nig auswuchernde Gasse, und — etwas ab gesetzt — die kleinen Komplexe von Bernhar din und Lichtenegg. Mit wenigen Ausnah men, meist am Vorstadtpiatz, waren die Häu ser dieser Viertel eingeschoßig, häufig mit einer Blendattika oder mit Krüppelwaimdächern versehen. Die erste genaue Planaufnahme datiert von 1825. Sie ist im Zuge des franziszeischen Ka tasters entstanden. Die Veränderungen bauli cher oder parzellenmäßiger Natur der näch sten Jahrzehnte sind immer wieder in entsprechende Kopien eingetragen worden. Vom Städtebaulichen her gesehen, sind diese Veränderungen kaum erwähnenswert. In die zweite Jahrhunderthälfte fallen zwei bedeutende Unternehmen. Von 1851 bis 1858 befaßte man sich mit dem Bau einer Ka vallerie-Kaserne, mehrere hundert Meter vom Vorstadtplatz abgesetzt, so daß der Westflü gel des Gebäudes außerhalb des Stadtareals lag. Die Situierung zwischen der Salzburger Landstraße und der damals noch verkehren den Pferdeeisenbahn ist unter strategischen Gesichtspunkten zu sehen. Die Größe der Kaserne entsprach annähernd dem Kern der Altstadt. Die beiden in Wels tätigen Stadt maurer-Gerechtigkeiten waren dieser Aufga be anscheinend nicht gewachsen, man ver pflichtete zunächst die Bauführer aus Steyr. Für die städtebauliche Entwicklung ist dieser Großbau ohne Folgen geblieben. Die weni gen an der Nordseite der Salzburger Land straße damals entstandenen einstöckigen Häuser sind meist noch jetzt erkennbar. Fast gleichzeitig wurde auch die Kaiserin-Elisabeth-Westbahn gebaut (1858). Sie führte etwa einen halben Kilometer nördlich der Vor stadthäuser vorbei. Die Trassenwahl erfolgte aufgrund einer dort vorhandenen sehr ergie bigen unterirdischen Quelle, die auch die Versorgung der bald darauf (1862) gebauten Abzweigung nach Passau ermöglichte. Die Anlage des Bahnhofes erfolgte in noch etwas größerer Entfernung vom Ostende des Vor stadtplatzes als der Kasernenbau von dessen Westende. Zunächst ergaben sich Probleme mit der verkehrsmäßigen Einbindung in die Stadt bzw. an die durch die St. Jörgengasse nach dem Norden zielende Aufallsstraße. Es dauerte mehr als eine Generation, bis die zwischen Vorstadt und Bahnhof liegenden und bewirtschafteten Felder baulich erfaßt wurden. Die Bahnlinie erwies sich dann als schweres städtebauliches Hindernis, da der geleiseüberschreitende Verkehr immer Pro bleme aufgab, da außerdem der Zwickel zwi schen den sich teilenden Bahnlinien, am stadtnächsten Punkt gelegen, die weitere Entwicklung zum seitlichen Ausweichen zwang. Diese Trennungslinie wurde ver schärft durch die Freihaltung eines Gerinnes für den Grünbach nördlich der Bahnlinie. Diese Verhältnisse bestanden schon, als Dr. Groß sein Amt als Bürgermeister übernahm, und sie bestimmten die Situation, als er nach 26 Jahren sein Amt weitergab. In der Gesamt situation hatte sich freilich eine gravierende Veränderung ergeben. Die Stadt war nach außen hin in keiner Richtung gewachsen. Auch die Bautätigkeit war sehr gering, soweit sie nicht interne Umbauten betraf. Jedoch vernichtete im Herbst des Jahres 1870 ein ausgedehnter Stadtbrand den Nordostteil der Stadt, einige Häuser am Stadtplatz nächst des Pfarrhofes und in der Pfarrgasse bis in das außerhalb der Mauern liegende Gebiet der Bäckergasse. Dadurch war eine Bauer neuerung notwendig geworden. Diese konn te an die Erneuerungen anknüpfen, die in den zwei Jahrzehnten vorher etliche Fassa den und Häuser am Stadtplatz und Vorstadt platz und in den wichtigsten Gassen, beson ders in der heutigen Fabrikstraße, zur Folge hatten. Der dort verwendete, zwar provinziel le, aber doch solide Historismus war also schon vorhanden, als man sich nun neuen Aufgaben zuwenden mußte. Noch sind die Verhandlungsunterlagen nicht aufgetaucht (die Bürgermeister pflegten da mals wichtige Akten zur Bearbeitung nach 39

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