Altstadt als ästhetisches Problem am Beispiel Braunau am Inn Rainer Relnisch Der ästhetische Wert der Altstädte ist unbestritten und deren Schönheit ist ein Element der Identifika tion für die Bewohner und ein Anziehungspunkt für die Besucher. Nur versuchsweise wurde bisher die Ästhetik der Altstadt zu ergründen versucht. Archi tekt Dipi.-ing. Rainer Reinisch hat als Baudirektor der Stadt Braunau Aitstadterhaitung in der Praxis erprobt und jüngst mit der Publikation des Buches „Altstadt in Österreich" gerade diese Schönheit aufgezeigt. Daß die Ästhetik, wenn nicht uner gründlich, so doch mehr als vielschichtig ist, stellt er in diesem Beitrag anhand von Beispielen aus Braunau dar. Die Zeichen stehen auf Altstadt. Nach einer Phase des Wiederaufbaues nach dem Zwei ten Weltkrieg ist die Wohnungsnot beseitigt. Neue Stadtteile lagerten sich an die histori schen Altstadtzentren an. Die Formenspra che dieser Satelliten war bei uns vom ameri kanischen Einfluß geprägt, aber auch im Osten huldigte man dem Hochhaus- und Fer tigteilbau. Spätestens nach dem Europäischen Denk malschutzjahr 1975 gibt es eine „Zukunft für unsere Vergangenheit". Historische Zonen werden geschützt, gepflegt und schonend er neuert. Der Zweite Weltkrieg hat große Lücken gerissen. Den Jahrzehnten nach 1945 sind nach neueren Feststellungen in Eu ropa mehr Denkmäler und Baubereiche von geschichtlichem Wert zum Opfer gefallen als in den Kriegsjahren.^ Der Rest ewiger Zer störung erfreut sich heute höchster Wert schätzung. Diese von einer Welle der Nostalgie zusätz lich getragene Hochschätzung der Altstadt läßt Fragen aufkommen: Was ist der Wert einer Altstadt und des Alten im allgemeinen? Wie läßt sich die gestalterische Eigenart und Vielfalt einer alten Stadt definieren und erläu tern? Ist die Wahrnehmungslehre im Sinne der griechischen Vordenker eine Hilfe bei der Annäherung an dieses Problem? Liegt die Schönheit im Objekt oder im Betrachter be gründet? Die Betrachtung der Altstädte von Bregenz bis Bad Radkersburg und von Weitra bis Lienz läßt es unwahrscheinlich erscheinen, daß eine wissenschaftlich-analytische Erklä rung der Schönheit von Altstadt überhaupt möglich ist. Zu vielfältig ist die Erscheinungs form. Kein Grundriß gleicht dem anderen, die Topographie prägt jede Stadt zu einer einma ligen Individualität. Die grobe Baustruktur kann ähnlich, aber nie gleichgestaltet sein. Fassaden, Dächer und Details differenzieren weiter und der Grad der Verschandelung ist glücklicherweise nur in einigen wenigen Städten so weit gediehen, daß er die ästheti sche Qualität der historischen Substanz zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat. Wenn man der Altstadt als Erlebnis über das Optische hinaus auch noch die Gesamtheit der Gerü che, der akustischen Eindrücke und der viel fältigen historischen und sonstigen Sensibilisierungen zuordnet, erkennt man die Unmöglichkeit einer prägnanten wissen schaftlichen Erfassung des Phänomens Altstadt. Der Schaffungsprozeß wird als integrierender Bestandteil der Entstehung und die Entste hung selbst als wesentliches Element des Werkes (Altstadt) aufgefaßt. Dadurch wird Ar chitektur weit mehr als bloße Gestaltbe schreibung und führt auch in die Bereiche des Sozialen und der Politik.^ Die Altstadt als Gegenstand der Wissen schaft ist auf Grund der skizzierten unentwirr baren Komplexität meta-physisch und wird wie Gegenstände der künstlerischen Kreati vität des Menschen immer unergründlich bleiben. Daß das Ideal einer erschöpfenden Antwort nie erreichbar, ja „irrational" ist, kann das Streben nach einer annäherungsweisen bestverantwortlichen Antwort so wenig wert los machen, wie wir bei einer Irrationalzahl auf die Berechnung verzichten können, weil wir wissen, daß wir doch nie an ein Ende kommen können (A. Wenzl). Die Beschäftigung mit der Altstadt greift über die Wissenschaft hinaus, indem sie vor allem nicht definierbare Dinge und Sachverhalte bearbeitet — sie ist daher jedenfalls eine phi losophische. Nur willkürlich gewählte Teilbe reiche können auch Gegenstand einer Wis senschaft sein. Ein Beispiel einer Altstadtwissenschaft ist die Stadtgeschichtsforschung. Weitgehend wert freie Historie ist aber letztlich wieder Material einer Wertschätzung auf Grund zuerkannter „Bedeutung". Das Ludwig-Boltzmann-Institut für Stadtgeschichtsforschung in Linz leistet auf diesem Gebiet Bedeutendes, aber auch andere Autoren versuchen Gestalttypen her auszuarbeiten, die bambergische, passauische usw. Marktgründungen darstellen.® Eine Übereinstimmung des ästhetischen Er scheinungsbildes aus der gemeinsamen Ent stehungsgeschichte abzuleiten, ist legitim, bringt aber nur selten überzeugende Ergeb nisse. Auch der Versuch, die Stadtgestalt als ein Derivat der Herrschaftsform darzustellen, wird zwangsweise Stückwerk bleiben, zu komplex ist die Genesis, die zur Gestalt unse rer heutigen Städte führte." Ein weiterer Versuch der Annäherung an die ästhetische Eigenart von Architektur und Städtebau ist der über die Psychologie. Der architektonische Freiraum führt ja kein Ei gendasein als „Raum an sich"; er steht als sinnlich aktuelle Raumumwelt in Verknüp fung mit dem Menschen und seinem Raum sinn, der vom Tastsinn der Haut, der Sehfä higkeit des Auges und dem Hörvermögen ge prägt wird.® In Verbindung mit dem histori schen Werden von Stadtgestalt werden die psychischen Anstöße der ehemaligen Krea tion und die heutigen sensorisch-psychi schen Empfindungen geprüft. Der Rhythmus der räumlichen Gestaltungen wird erforscht: Das Raumbild der Antike, die asymmetrisch polare Gestaltung im Mittelalter, die von Wis sen und Geometrie bestimmte Form der Re naissance und Moderne sowie die Dynamik des Barock. Sogar aus der Literatur und der Alltagsspra che lassen sich tiefenpsychologische Hypo thesen über die Wirkung der Stadt auf den Menschen abgewinnen.® Befragungen brin gen im weiteren auch konkrete Auskunft über die Erlebnisqualität von Bewohnern und Tou risten. Unverkennbar ist auch die derzeitige Zuwendung zu historischer Architektur, wenn sich diese in gutem qualitativem Zustand prä sentiert.'' Dem gegenüber steht die besonde re Verabscheuungswürdigkeit der Neubau gebiete, die sich wohl in den letzten Jahren noch verstärkt haben wird. Diese Zuwendung zur Altstadt, aber auch den Stadtrandgebieten gilt wohl dem stupenden Aneinandergeraten von unterschiedlich sten Partikeln von Wirklichkeit, das den Ver führungseffekt der Psyche eher in Gang setzt als die Monotonie, der man keine ent deckungsfreudige Aufmerksamkeit zu schen ken hat, weil nichts mehr an ihr überraschen kann. Eben deshalb, weil diese disparaten, diffusen Strukturen nicht geregelt, sondern Produkt der Zufalles sind, wirken sie als Si gnale, die auch den Assoziationsfluß eines Menschen durch ihren Anblick nicht klebrig ans immer Gleiche fesseln, sondern freige ben für Abschweifungen ins Unzensurierte: Dinge, wie einfache Mauern, Häuser, Tore, Durchgänge, Winkel, dürfen wieder zu jener Beseeligung erwachen, die sie einst in Kin dertagen zu etwas Beglückendem machten. Über Geschmack und Schönheit läßt sich streiten, nicht aber über den erfragten common sense. Um das unergründlich Schöne und Interes sante der Altstädte mit wissenschaftlicher Methodik in den Griff zu bekommen, bemüht man die Ortsbiid-inventarisation. Mit Fleiß und Akribie werden Ortsbilder dokumentiert, aufgezeichnet, photographiert, in wesentli che Gestaltelemente zerlegt, Farben und Tex turen aufgenommen. Der Zauber des Origi nals wird aber einer noch so großen Zahl von Einzeldokumentationen nie zu entnehmen sein. Die Stadtgestalt von Innsbruck wurde dokumentiert,® aber das dynamisch-räumli che Erleben der belebten Stadt ist damit nie
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