Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 3, 1986

Rainer lachte. Ich bin ganz und gar nicht kriegerisch, höchstens passiv, und das ohne Gewähr. Selbsterhaltungstrieb, sich, wenn man angegriffen wird, zu wehren, zu verteidigen, das sind Eigenschaften unserer Natur, die wir hoffentlich nie verlieren werden, sonst sind wir verloren. Denk daran, daß wir alle die Rückenfreiheit suchen, selbst im Wirtshaus. Es ist gut, daß es diese Instinkte noch immer gibt. Es sind Atavismen, wenn Du willst, aber wichtige. Die müssen wir wachhalten, sie, wenn es gilt, mit Vernunft einsetzen. Meinst Du, warf ich ein, daß es falsch wäre, wenn wir den Feind, den wir vorher nie gesehen haben und der uns bis jetzt nichts getan hat, am Leben ließen? Gewiß, entgegnete er ohne Zögern. Das wäre nur dann richtig, wenn wir wüßten, daß er auch so denkt. Weil wir es nicht wissen und ihn unmög lich zuerst fragen können, bleibt alle Friedensliebe Theorie. Im Kampf kannst Du den Feind nur dann schonen, wenn er sich ergibt. Ein Bekann ter von mir ging ins Feld mit dem festen Vorsatz, niemals auf einen Men schen zu schießen. Als er dann im Schützenloch stand und die Sowjets in dichten Schüben angriffen, schoß er, was das Zeug hergab. Er hatte Angst, Todesangst. Er wehrte sich und schoß. Wenn Du das so sagst, kommt es mir richtig vor. Das wirft einen meiner Grundsätze über den Haufen. Das tut mir leid. Ich hätte nicht davon gesprochen, wenn Du mich nicht gefragt hättest, sagte Rainer sehr langsam. Da wir beide schwiegen, glaubte ich den Augenblick gekommen, meinen Vorsatz auszuführen. Ich begann von den sozialen, politischen Verhält nissen zu sprechen, von der Gewalttätigkeit und Skrupellosigkeit des Re gimes, von Macht und Korruption; von den Mißverhältnissen zwischen Machthabem und Volk; von der Verwerflichkeit der Herren-Sklaven-Moral; versuchte Nietzsche zu widerlegen, kam auf Karl Marx und seine Ideen zu sprechen. Ich versuchte ein Zukunftsbild der Menschheit zu entwerfen, wie ich, wie wir es uns vorstellen. Rainer antwortete nicht. Anstatt Entgegnung oder Zustimmung hörte ich Atemzüge. Die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge eines von Müdigkeit überwältigten Menschen. Rainer schlief. Ich unterbrach mich, fühlte, wie mir der Zorn das Blut in den Kopf trieb. Dann mußte ich lachen. Auch das störte den Schlaf meines Nachbars nicht. Die Leuchtziffern meines Weckers zeigten auf halb Drei . . . 31. März Rainers Irrtum ist ungeheuer. Nur weiß er nicht, daß er irrt. Was küm mert's mich? Bin ich ein Hirte, um verirrte Schäflein zu suchen? Mag er sich selbst zurechtfinden. Was zu tun war, habe ich getan. Man muß sich beschränken können. Er hat einen Bombenurlaub bekommen und ist bei seiner Familie. Kai war da, erzählte fiebrig, daß man auf seiner Spur sei, daß er nur mit knapper Not der Verhaftung entgangen war. Getraut sich nirgends mehr zu bleiben, auch bei mir nicht. Ist nervlich und äußerlich heruntergekom men. Hat hohle, graue, faltige Wangen, flackernde Augen. Ich tat, was möglich war, gab ihm Zeug von Einar. Fütterte ihn, war zärtlich. Wollte mit ihm gehen. Er befahl mir streng, hierzubleiben. Dieser Stützpunkt — meine Wohnung — müsse gehalten werden (ganz militärisch auch er — welche Psychose!). Wir umarmten uns leidenschaftlich . . . Die Roten kämpfen schon in Ungarn. Werden sie zurecht kommen? 1. April Heute kam die Nachricht. Ich bin also frei. Aber ich war es schon vorher, kraft eigenen Entschlusses. Man ist frei von sich aus oder nie! Armer Einar! Die Not dieser Tage hatte ihn schon fast aus meinem Gedächtnis gelöscht. Auch er eine Beute des Wahnsinns, des Verbrechens. Wie son derbar, fast komisch, das Wort: Witwe. Trotzdem werde ich Kai nicht heiraten. Ehe: Das ist die einschränkendste aller Konventionen. Kai war Minuten lang da, holte sich Essen, durchgebrochen. Die Rotarmisten sind Später Als Rainer westwärts fuhr, küßte er mir die Hand. Ich fühlte mich errö ten, zog ihn an mich, küßte ihn auf den Mund. Wie er es hätte tun müs sen. Da geriet er plötzlich außer sich vor Leidenschaft. Ich nahm mich gleich wieder zurück, schob ihn von mir, machte mich, meiner nicht mehr sicher, in der Küche zu schaffen. Rainer stürzte hinaus. 2. April Von Kai keine Spur. Auch seine Schwester kam nicht. Nachts war vor übergehend ein Ehepaar bei mir. Flüchtig wie Kai, fanden sie keinen Schlaf. Bei Tag Alarm und Nachrichtenübermittlungen. Konnte damit W. und seiner Frau helfen. Ein aufregendes Geschäft. 5. April All die Tage nichts von Kai. Keiner der Freunde weiß von ihm. Tiefe Sor ge, Ratlosigkeit; zwischendurch Zuversicht. Vormittags läutete Rainer. Bei einer Tasse Tee gaben wir uns Situationsberichte. Er holt sich nur Pa piere und fährt wieder ab. Kein Wort über unseren „Zwischenfall". Dann kam Antschi. Wir redeten auf ihn ein zu bleiben. Morgen oder übermor gen würden wir frei sein. Aber er ist entschlossen zu gehen, durch nichts davon abzuhalten. Meinte, die Russen würden ebenso schlimm sein wie die Unseren und die seien wenigstens Landsleute. Einmal fuhr wie ein Blitz der Gedanke durch meinen Kopf, für Kai Rai ners Papiere zu stehlen. Damit wäre Kai gerettet und Rainer müßte hier bleiben. Ein phantastischer Einfall! Die Sirenen heulen nicht mehr, dafür bellen Flakkanonen. Abends Rainer hat sich verabschiedet. Er war förmlich, betreten. Ich schweig sam. Ein Versuch, mich Kais wegen zu trösten, mißlang ihm kläglich. Ich mußte mir Gewalt antun, um den Fehler von damals nicht zu wiederho len. Sein Gesicht spiegelte deutlich sein Inneres wider. Also erging es ihm ähnlich. Warum blieb er dann nicht? Wegen Kai, seiner Frau, Einars we gen? Sicher, weil er ein Mann von Grundsätzen ist wie alle Männer. Sie sterben ja auch aus Prinzip. Jedenfalls ging er. Schade, er gehörte schon zur Familie. Zur Familie — ? 6. April Kais Mutter kam verzweifelt, ohne Blut im hageren, kummervollen Ge sicht. Fragte mich zitternd, ob ich denn wirklich nichts wisse. Wer soll denn was wissen, wenn Du nicht, sagte sie bohrend. Ich wußte wirklich nichts und kam mir dennoch wie eine Lügnerin vor. Ich hätte lügen müs sen, konnte es aber nicht. Versuchte ihr einzureden, daß, wenn er nicht mehr frei wäre, wir es durch V. erfahren hätten. Ach, meinte sie verächt lich, der hat ja Angst. Auf einmal schloß sie die Augen, drehte sich zur Seite, hatte einen ihrer Herzanfälle. Ich gab ihr stärkende Tropfen, führte sie, als sie sich wohler fühlte, nach Hause. Ihre Tochter brachte sie zu Bett. Bin nun wieder in der Wohnung, sinnend, grübelnd, voll unnützer Ge danken und Gefühle. Starre vor mich hin, alle Möglichkeiten erwägend, wendend, wiederkauend. In mir wächst ein Vakuum. Ich denke, fühle auf einmal nichts. Es ist, als sei ich nicht mehr. Ein Gewicht hat sich aus mir herausgehoben, das mir Schwere gab, Sinn und Inhalt, die Fracht, die einem Schiff Tiefgang gibt. Es ist leer und finster in mir. Ich sehe das Wort: Leichenhalle in großen Lettern an einer Wand. Immer wieder. Versuche, mir Kai zu vergegenwär tigen, mißlingen. Ich strenge mich an — vergebens. Die Verbindung mit ihm ist abgerissen, der Kontakt unterbrochen . . . 94

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