Durch sich selbst gebunden. Viel mehr, als es natürlich sein kann. Trotz dem ist er mit Einar nicht zu vergleichen. Seine Augen sind voll rätselhaf ten Lebens, er nimmt mich ganz in seinen Blick. Rainer schaut. Und dabei ist eine Welt in seinen Augen, eine sinnenhafte Welt. Es ist ganz anders als bei Kai — schon wieder Kai! —, dessen graue Gewaltaugen mich fest nageln, in mich eindringen, mich ausschlürfen. Auch Rainer wird vom Sinnlichen bestimmt, doch wird er von anderen Kräften im Gleichge wicht gehalten. Er hat sich in der Hand. Bei ihm ist Geistiges im Spiel. Das vor allem unterscheidet ihn von Kai, dessen Intelligenz überlegen, aber ungeistig ist. Kai sieht jedes Problem nur von sich aus, Rainer ver sucht über den Dingen zu stehen. Kai ist diebisch, räuberisch, mörde risch: eine Piratennatur. Rainer wirkt gezähmt. Sein Männliches ist ver schlüsselt, überlagert. Seine Aura wirkt fremd und geheimnisvoll. Vielleicht macht ihn gerade das anziehend. Eines ist sicher: Man kann ihm vertrauen. Ich würde ihm blind vertrauen, auch wenn ich nicht wüßte, daß er in irgendeinem Sinne einer der Unse ren ist. Er und denunzieren ist undenkbar. Man könnte in ihm wie in einem Beichtvater alle Sünden deponieren. Obzwar er selbst kaum Geheimnisse preisgibt. Trotzdem hatte ich, als wir im Dunkeln nebeneinander lagen, das Gefühl, daß er gern von sich spräche, werm ein Zuhörer nur genü gend Geduld, Kraft und Zeit aufbrächte, alle Mauern abzutragen, mit de nen er verbaut ist. Er brauchte einen Vertrauten, der ihn geschickt von Bekenntnis zu Bekenntnis lockte. Das würde ihn von seiner Befangenheit befreien, seine Zunge lösen. Ich habe Rainer durch Antschi kennengelernt, die mit seiner Frau be freundet ist. Sie hat mir von ihm erzählt, aber viel weiß auch sie nicht. Obzwar noch nicht vierzig und gesund, ist er doch nicht Soldat. Er ist wie so viele für einen wehrwirtschaftlich wichtigen Betrieb unabkömm lich gestellt worden. Vielleicht besitzt er besondere berufliche Qualitä ten. Seine Frau und sein Töchterchen sind im Westen evakuiert. Seit mehr als einem Jahr allein, geht er seiner Arbeit nach. Antschi und ich waren einmal in seiner Wohnung. Der Frauenbesuch machte ihn verlegen, auch ist er anscheinend Geselligkeit nicht gewöhnt. Er besann sich eines Kognaks, den er in einer netten kleinen Bar hatte. Seine Frau hätte das so eingerichtet, sagte er entschuldigend. Dann trank er uns zu und wurde etwas lockerer. Krieg und Politik scheinen für ihn kaum zu existieren. Zumindest sprach er nicht von ihnen. Dafür gestand er verschämt, daß er Verse schreibe. Sogar während eines Bombenangriffs wären solche entstanden. Ent schuldigend fügte er hinzu: „Während doch unsere Leute fortwährend im Kampfe stehen". Das „unsere" gefiel mir nicht, doch meinte er wohl Landsleute. Wir drängten in ihn, uns etwas vorzulesen. Er versprach es fürs nächste Mal. Daraus wird jetzt natürlich nichts. Uns interessieren Gedichte zwar wenig, aber vielleicht sagen sie etwas über ihn aus. Rainer wohnt in einem Haus in der Dreifaltigkeitsstraße. Die Fenster sei ner Wohnung gehen auf den Hof: so hat er Ruhe und zugleich die Vorteile zentralen Wohnens. Er könne, so erzählte er, nur ein kleines Stück vom Himmel erblicken, darin das vergoldete Abschlußkreuz eines Kirchen dachs funkelt. Wir hätten gern das Funkelkreuz gesehen, aber es war schon Nacht. Das Zimmer, in dem wir saßen, war wohnlich. Bücher gaben ihm einen angenehmen Farbton, eine ernste Behaglichkeit. Der zweite, größere Wohnraum machte einen leeren Eindruck. Die Betten hat er seiner Frau mitgegeben, er schläft auf einer Couch. Sehr sauber war es nicht, er hat keine Zeit zum Zusammenräumen, der Betrieb nimmt ihn täglich zehn bis zwölf Stunden in Anspruch. Während wir am Kognak nippten, brachte ihn Antschi dazu, mit mir per Du zu werden (sie duzt sich mit ihm schon lange). Ich glaube, er freute sich darüber, obwohl er sich auch da einen Stoß geben mußte. Seine Verlegenheit belustigte mich. Aber der übliche Kuß war wider Erwarten ordentlich. Dann überströmte mich sein Blick wie ein Sonnenstrahl im April. Er sagte: „Ich heiße Rainer Gustav Ferdi nand". Wir lachten. Erheitert klärte er uns auf: „Das sind meine Vorna men." „Zählst Du immer alle auf, wenn Du Dich vorstellst?" wollte Antschi wissen. Rainer verneinte. Das sei ihm plötzlich eingefallen. Nun interessierte ihn meine Reporterzeit, Antschi hatte ihm davon er zählt. Ob es mir leicht gefallen sei zu schreiben, ob ich dazu eine Beru fung gefühlt und ob mich diese Tätigkeit befriedigt habe, ob ich mit mir selbst zufrieden gewesen sei. Das war ein Thema, über das ich mich be reitwillig ausließ. Ich erwiderte, ich sei eine engagierte Reporterin gewe sen und wäre es noch, wenn der Stiefelterror es nicht unmöglich gemacht hätte. Ich wäre stets in Zeitnot gewesen und hätte mir selbst nie genug tun können. Kann man denn überhaupt schreiben, wenn die Zeit drängt, fragte er. Man kann es, erwiderte ich, man muß jedesmal wieder über die Klinge springen. Es ist eine harte Schule, man muß sich das Letzte abver langen. Hast Du ein Vorbild gehabt, wollte er wissen. Ich konnte unver züglich antworten: Ja, Egon Erwin Kisch, den gar nicht so rasenden, als vielmehr sehr besonnenen und genauen Schreiber, dem die Wahrheit über alles geht. Rainer kennt seinen Namen, aber nichts von ihm. Von mir kannst Du etwas von Kisch haben, sagte ich. Laß' Dich nicht erwi schen, scherzte er darauf, der Mann ist Jude! Sein Interesse am Schreiben hatte mich in Eifer gebracht. Ich erinnerte mich lebhaft dieser Zeit, in der ich gehetzt und doch frei war. Ich erzählte ihm auch, daß die Schrifttumskammer mich, die Sozialistin, abgelehnt habe. Rainer hörte mir aufmerksam zu und schwieg. Dann sagte er lang sam: Also eine Sozialistin bist Du, und ob ich mit dem russischen Marxis mus einverstanden wäre. Nein, antwortete ich, ich meine den österreichi schen, der ist anders. Antschi hat mir erzählt, daß Rainer eine unverständlich loyale Einstel lung zum Regime habe. Er glaubt, daß die Alliierten alle Deutschen ver nichten wollen und daß der Nationalsozialismus nur ein Vorwand dazu wäre. Naiverweise verficht Rainer die Ansicht, die Abrechnung mit den Nazis nach dem Kriege wäre eine innere Angelegenheit der Deutschen, des deutschen Volkes. Ich werde wütend, wenn ich dieses mißbrauchte Wort „deutsches Volk" nur höre. Seit Hitler und Goebbels klingt es wie Leibeigenschaft. Rainer lebt wie ein Embryo im Wassersack. Er sollte Frau Ziegler sehen, deren Sohn man den Kopf abschlug, ihr Gesicht, in dem Schmerz und Haß zu Stein geworden sind. Das müßte ihn gründlich verwandeln. Er sollte Horrak kennen, den man in Dachau ein Jahr lang „behandelte". Horrak, der schweigt, auch seiner Frau gegenüber, aber in den Nächten träumend aufschreit und sich lange nicht beruhigen kann. Aber sein Gesicht erzählt genug, es bedarf keiner Einzelheiten. Seine ge stauten Erinnerungen werden in Gärung übergehen, er wird am Schwei gen ersticken. Rainer müßte Geldner kennen, Starovsky, Weber und Dut zende andere, die könnten ihm Geschichten erzählen, daß ihm der Atem wegbliebe, das Blut erstarrte. Aber würde er sie für wahr halten? Leider war damals keine Gelegenheit, von diesen menschlichen Katastro phen zu sprechen. Als wir gingen, lud ich ihn ein, mich zu besuchen. Er soll die Wahrheit wissen, bevor sich die tausendjährigen Nebel auflösen. Antschi müßte dabei sein und natürlich auch Kai. Rainer sagte zu. Es vergingen Tage, an denen ich mich unwillkürlich darauf vorbereitete, ihn zu „bekehren". Meine Gedanken umkreisten seine naiven, ja sträfli chen Ansichten, im Geiste hatte ich ihn vor mir, redete auf ihn ein, wollte ihn ganz für uns gewinnen. Vielleicht, dachte ich, denkt er deshalb so phantastisch, weil er Verse schreibt. Ich weiß nicht, ob sie etwas taugen, aber gerade als Dichter wäre er der Wahrheit und nur ihr verpflichtet. Bald meldete Antschi seinen Besuch für Freitag an. Er kam einen Tag früher. An diesem Donnerstag war auf eine kalte Mondnacht ein reiner Vorfrüh lingstag gefolgt. Am Vormittag gab es Alarm. Verstreut fielen Bomben, die nur Sachschaden anrichteten. Nach der Entwarnung hatte ich in der Stadt zu tun. Eben als ich mich heimwärts wandte, traf ich Rainer. Er ging am Gehsteig und sah ab und zu auf ein Wägelchen, vor das ein gemäch lich dahintrottendes Pferd gespannt war. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein Erlebnis. Freudig überrascht begrüßte er mich. Was tust Du da. 91
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2