Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 1, 1986

Kriege und Katastrophen zerstört. Dort gefundene Inschriften lauten: DEM TITUS TURBONIUS BLASTUS MIT LX UND SEINEM SOHN NOVLLUS MIT XV DEM TITUS TURBONIUS CALLISTUS MIT XC UND DER TURBONIA FUSCA MIT LXV DEN HOCHFROMMEN ELTERN. Der Grabstein später gewendet und degradiert zum Wasserauslaß nahe der Küche, eine Art von Kanaldeckel beim Abtritt, wohin die Kochabfälle wanderten. Uber dem Stein jedoch mit der Grabinschrift der sanfte Schritt des Dieners. Dieser war Zeuge eurer Festmähler, Alltagsessen, eurer Räusche, Übelkeiten bis zum Kotzen; alles das aber nahm der trübe stinkende Fluß des Kanals quer durch das Haus mit sich und sprudelte es hangabwärts ins Freie. Und wiederum nahe eine Ziegelplatte, in deren noch weichen, ungehärteten Ton ein Finger schrieb „MIT ALL DEN SEINEN Q.V.B." Der Ziegel unweit der Villa im Flur gefunden, den die Bauern auch heute noch „versunkenes Schloß" nennen. Bergwärts, hangwärts in Nordwest steht Burg Neuberg, spätmittelalterliche Anlage auf Grundmauern des 12. christlichen Jahrhunderts, Herbersteinscher Besitz: Südlich der Burg ein kleiner verwahrloster Bauernhof mit eingemauertem Stein an der Hauswand. Dieser zeigt „ein zweihenkeliges, großes Gefäß mit Standfuß und rechts daneben einen Panther, der seine rechte Pranke auf ein Füllhorn legt". Schon im Jahre 1770 entdeckte man dort nahe dem Haus einen römischen Grabhügel aus „gut behauenen Steinquadern". Nur einer von zwei steinernen „Grabwächtern" konnte gerettet werden. Es ist ein Löwe, der einen Eberkopf in seinen Pranken hält. Die schwere Skulptur aus dunklem Granit steht heute in einem kleinen Park der steirischen Stadt Hartberg, Sinnbild nicht nur „der Macht des Todes" und Abwehrsymbol gegen Grabräuber, die sicher irgendwann einmal kamen, sondern auch Dokument eines witterungsanfälligen zerstörungsgefährdeten Überlebens auf Zeit. Ein Gleichnis des nicht mehr Mitteilbaren. Im schlampig gehaltenen Hofgrund der kleinen Wirtschaft, an eine Zaunwand geschichtet, starren nutzlos sich selbst überlassene Trümmer, die nicht einmal mehr als Baumaterialien verwendet werden dürfen. Es sind Quadern der Grabkammer, steinmetzverziert, von Alter geschwärzt aus ihrem Jahrhundert in unser zwanzigstes verschlagen. Wo sie liegen, ist einst (mit Einschluß von Ungenauigkeit bis auf ein paar Meter) der Grabhügel aufgebaut worden. In Steinwurfweite wiederum davor stehn roh zusammengenagelte Tische und Bänke im Freien unter den Obstbäumen, wo die Einheimischen auch heute ihren selbstgebauten Wein vom nahen Hang trinken. Kinder laufen umher, eines davon mit einem starren Ausdruck und den Bewegungen eines geistig und körperlich Behinderten. Gerade an diesem Ort wird Zwiegespräch, stummes mit der Vergangenheit, immer wieder geführt: Eure Mysterien, unverständlich dem Heute, sind wohl überlegen unseren Ferien; sie erneuerten Euch von Grund auf. Eure Literatur verbirgt sich im längst gesprochenen Wort, in Gebeten, Wünschen, Fürbitten, Gelübden, die erklangen vor den kleinen Tempelchen und Altären an den Wegkreuzungen. Die Kürzel auf Euren Grabsteinen: Kommentare Eurer Hinterbliebenen ans Heute, die Euch römischem Gedächtnis bewahren, solange Schrift ist, LITTERA, Steine halten und nicht zerfallen sind. Aber wo blieb jene Gegenliteratur des Handels, der Märkte, der Spässe und Witze, des Militärs aus der nahen Munizipalstadt? Wie lauteten Eure Staatsbürgerakten, Steuereintragungen und Testamente? Eure Zeitungen: Widmungsinschriften des Statthalters, Meilensteine, die der Großteil der Bevölkerung nicht lesen konnte? Aber wie gut denn konntet Ihr Keltisch, wie gut Germanisch, die beiden Muttersprachen, die hier am stärksten verwurzelt waren? Wie weit verstandet Ihr die vielen Mundarten und Dialekte der Region, die Sprachen der Zuwanderer? Septimius Severus, Herrscher über das Römische Weltreich, hatte zeit seiner Regentschaft immer den fremden, afrikanischen Zungenschlag. Römisch aber bleiben von Anfang und weiterhin: Städtische Inschrift, Servicedienste für Bürger wie Heizung, Bad, Fließwasser, Kanäle, Straßen, Stadtmauern, Versammlungsorte Forum und Kirche. Römisch sind Thermen, Türme und Gräben, Limes und Tore und Brücken, Triumphbögen, Statuen, Büsten, Waffen und Uniformen, Münzen, Rechtsverordnungen und Gesetze statt vager Rechtsgefühle und Bräuche der Barbaren. 95

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