Oberösterreich, 36. Jahrgang, Heft 1, 1986

Curriculum Lauf, mein Curriculum lauf; durch Landschaft der Herkimft, der Arbeit, des Wohnens und Aufenthalts im Vergänglichen. Kamera blendet zurück, Bilder laufen vorbei, verweilen augenblicklang, bis nächster Augenblick sie zerstört . . . Wien, die Rotundenbrücke, hellgrün mit Bögen, Geländer und Nieten, ein Schwung von Ufer zu Ufer, der einmal dem Kind wie ein geheimer Weg, eine Hochbahn mal zwei erschien . . . Und ganz in der Nähe dort einst die „Preßburger Elektrische" Wittelsbachvolksschule, Jesuitenwiese, Bombenangriffe auch, Luftschutzkeller und das Eckhaus ein paar hundert Meter weiter vor dem Brückenkopf so durchrasiert durch Sprengkraft, daß ein Klavier schräg über geschlitztem Fußboden hing. Aus der Hauptstadt hinaus dann die Flucht aufs Land: Kirchschlag am Wechsel, Kinder banden lieferten dort Kastanienschlachten, kletterten auf die Burgruine, Fliegergeschwader zogen noch immer über ihre Köpfe hinweg Wien zu, bis schleunigst man weiter aufbrach nach Westen. Und mit einem Mal, über Nacht dann Salzkammergut, St. Georgen, der Schlafsaal mit den Strohsäcken, bald schon verstecktes oder zerstörtes Bild des Diktators gerade noch an der Wand und Wiedergeborenwerden am Attersee, mare altum der Kindheit, Weyregg, Steinwend, Poischach. Eines Tages dann, zweieinhalb Jahre nachher wagten die Eltern die Rückfahrt im offenen Lastwagen, Holzvergaser, nicht einmal vollgeräumt mit armselig verbliebener Habe, nach Wien, ins Eltern- und Großelternhaus „Zum Guten Hirten", das heut nicht mehr steht. Ich kann mich erirmern, daß mich das Heimweh gewürgt hat, am See, dort wo der Blick hinübergeht über das Blau zum Schafberg und zum besonnten Buchberg. Und in Wien fuhren ringsum Straßenbahnen hart und laut ums Haus, das kein einziger Baum beschattete und wo dennoch die Bäume des Gastgartens standen wie im letzten, hoffnungslosen Versteck. Nach jenem einen Jahr erstmals Linz: das Riesenfreiluftlabor der Industrie vor dem Pfenningberg und später, vor der Autobahnabzweigung im Blickwinkel Enns mit seinem Wunder von Turm und die Horizonte von Hügeln des Mühlviertels und der Voralpenkette gesäumt. Mit einem Mal heißt dann bis heute die Stadtlandschaft Linz, man blickt vom Hochhausbalkon weit ins Land, ist von drei Linzerinnen umgeben und hat im Fenster den Otscher. Großen und Kleinen Priel, Dachstein, Traunstein und Höllengebirge, das wieder an den Attersee grenzt, davor aber, in der Tiefe, lärmgedämpft die Stadtautobahn und, ferner ein wenig, aber wie auf einer Bühne zusammengerückt, dieselbe Industrie, die den Vater zum Überleben nach Linz gezogen hat. Weiß man denn eigentlich, daß man gerne hier lebt? Fußverhafteter Bürger, der seiner Stadt gerne dient und dennoch ihr täglich auch ein Mehr schafft an Zivilisation — Abwässer, Abfälle, Parkplätze, Strom, Wasser, Wärme vom Fernheizwerk —. Man hört das Pulsieren des Autostroms, Venen, Arterien in steinernen Bahnen und Netzen, und während man wohnt so einigermaßen geborgen, erhöht auch schon die Stadt die Tarife und wächst der Zins, den die Wohnungsgesellschaft für die Miete kassiert . . . Hier ist LIMES, sagen auch heute die ringsum ausgegrabenen Römersteine und das heißt, daß lebenslängliche Fußverhaftung zwar Schicksal sein kann, aber nicht Krankheit sein muß. Und das heißt auch, daß es an diesem Punkt der Welt nicht die Erfahrung des Weltreisenden braucht, um Welt, die hier sich abspielt, gültig zu durchleben . . . 92

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