PROSA Das Insekt Der Polier Ich schreibe. Ein Insekt sitzt auf meinem Schreibpapier. Ein Insekt, so winzig, wie der Kopf einer Stecknadel. Ein Insekt mit unsichtbaren Au gen und mit Flügeln, die so klein sind, daß ich sie ohne Brille nicht sehen karm. Ein Insekt, das gerne lebt, obwohl es nichts davon weiß. Lauf weg, flieg' fort, oder ich werde dich überschreiben. Ich bin nicht zu bremsen, wenn ich beim Dichten bin! Wäre ich das Insekt, sähe ich etwas unsagbar Großes auf mich zukom men, etwas ungeheuer Bedrohliches, dessen oberes Ende bis an den Him mel reichte, etwas, das mißtönig auf dem Papier schabte, kratzend seine Oberfläche aufrisse, blauschwarze Tropfen verspritzend . . . Ich bliebe nicht sitzen wie du. Ich ergriffe die Hucht. Ich liefe vor mir davon. Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht zu bremsen bin. Es wird einen Unfall geben, noch dazu einen mit tödlichem Ausgang! Nein, es wird ihn rächt geben. Du hast Glück, Insekt, weil ich mit der Hand schreibe und nicht auf der Maschine. Ich werde meine Zeile verbie gen und an dir vorbeischreiben. Das wird nicht schön sein, aber es wird dein Leben retten. Der Versuch gelingt. Ich bin vorüber und blicke zurück. Jetzt, wo es ei gentlich zu spät wäre, setzt sich das Insekt in Bewegung. Es benützt die unbeschädigt gebliebene Straße zwischen zwei Verszeilen und kriecht langsam auf den linken Rand des Gedichts zu. Es muß herrlich sein, so zwischen Worten zu überleben. „Da bist du ja", sagte der Bauer, als ich eines schwülen Julisonntags auf seinem Hof ankam. Er war ein hagerer Mann in den Fünfzigern, der sich bedächtig von seiner feiertäglichen Bank erhob und mich mit einem schmerzenden Hände druck begrüßte . . . Es war vorgesehen, daß ich den Sommer über bei ihm wohnen sollte, nicht ahnend, daß aus den wenigen Wochen drei Jahre würden, drei Jah re, von denen ich — rückblickend in der Erinnerung — nicht einen einzi gen Tag missen möchte. Ein Freund, ein guter Bekannter des Bauern, hatte mir seine Anschrift vermittelt, hatte mit ihm geredet und ihn soweit gebracht, daß er mich aufnahm. Da stand ich nun, landunerfahren, neben meinem Auto, das damals mein einziger wirklicher Besitz war — die Gedichte, die ich mitschleppte, wa ren in diesem Sinne kein Besitz — und war überrascht. Ich ahnte, daß der Bauer einer der „größten" der Gegend sein mußte, so weitläufig waren die Gebäude, die aber dennoch einen Hof umschlossen, weshalb der Name zu Recht bestand. Der Bauer war ein kluger Mann und ließ mir Zeit. Weim auch seine Lek türe nur aus der Zeitung bestand, konnte er dennoch von meinen Ge sichtszügen das Ausmaß der Verwunderung ablesen. „Ja", sprach er nach einer Weile des Schweigens, „so ist es bei uns. Du siehst, wie viele Häuser wir haben und wirst dennoch in keinem von ih nen wohnen, sondern in dem kleinen dort drüben." Er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger in eine Richtung, die dem Bauemhof entgegengesetzt war und wo ich vorläufig nichts weiter erken nen konnte, als eine im Wind zitternde Wand wildverwachsenen Grüns. „Wo ist dein Gepäck?" fragte der Bauer und schien enttäuscht, als ich ihm, nachdem ich den Kofferraum meines Autos geöffnet hatte, eine einzige Reisetasche reichte. „Ist das alles?" murmelte er hoffnungslos und ließ die Tasche an einem Finger seiner rechten Hand baumeln. „Gewiß", entgegnete ich. „Glaubst du nicht, daß auch eine schmale Tasche genügt, um damit auf einem rechtschaffenen Lebensweg unterwegs zu sein?" Der Bauer blickte mich mißtrauisch an, wie es solche tun, die meinen, etwas falsch verstanden zu haben, schritt aber dann doch voran. Er teilte Unkraut und Büsche, zeigte mir ein bisher verborgenes Tor in einem Holzzaun und führte mich in einen kleinen, verwilderten Garten. Nachdem wir ihn betreten hatten, sah ich, daß darin ein kleines Haus stand. Es war nicht nur klein, es war geradezu winzig, auch wenn es über ein erstes Stockwerk verfügte und sogar über einen Balkon vor demsel ben, der in der Gestalt morscher Holztrümmer an der Wand hing. „Hier wirst du wohnen", sagte der Bauer, nachdem er mit einem umständ lichen Schlüssel eine knarrende Türe aufgesperrt hatte. „Frühstück und Essen gibt es drüben im Hof; sonst aber kannst du hier tun , was du willst." Er ging davon und ich richtete mich ein, soweit man bei der Armseligkeit meiner Habe von einem „Einrichten" reden konnte. Nachdem das gesche hen war, ging ich zu dem Bauern hinüber, der mich seiner Frau zeigte, sei nem Sohn, seiner Tochter und darüber hinaus einem Knecht — er hieß damals schon „Landarbeiter", war aber trotzdem nicht mehr als ein Knecht — der mit den Fäusten zupacken konnte, in seinem Oberstübchen allerdings nicht ganz „richtig" war. Der Knecht erzählte mir von seinen Erfolgen als Fischer, obgleich weit und breit weder ein Bach noch ein Fluß zu sehen war. (Daß es trotzdem einen Bach gab, erfuhr ich erst später. Al lerdings war dem Knecht das Fischen in diesem Bach verboten worden, weshalb er auf seinem Moped zu einem etwa zwölf Kilometer entfernten Strom fuhr.) Nachts lag ich wach und lauschte den fremdartigen Geräuschen, die auf diese Weise zum erstenmal meinen Schlaf bedrängten. Es ächzte und knarrte im Gebälk, der zunehmende Mond hinterließ flüchtige Spuren 95
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