Gedanken über Umfang und Periodisierung der kirchlichen Kunst des 19. Jahrhunderts am Beispiel Oberösterreich Bernhard Prokisch Im Vergleich mit den älteren Kunstepochen bis zum Ausgang des Barock sieht sich die Forschung im Bereich der Kunst des 19. Jahr hunderts teilweise grundlegend anderen Fra gestellungen gegenüber, die — trotz der stän dig fortschreitenden Aufarbeitung — nach wie vor in Diskussion stehen; einen wesentli chen Ausgangspunkt dazu bildet die sich lau fend erweiternde Kenntnis des oft sehr um fangreichen Denkmälerbestandes, die ein sich langsam abrundendes Gesamtbild der Kunst der Zeit erst ermöglicht. Im folgenden sollen zwei Problemkreise kurz vorgestellt werden: 1. die Fragen der Gattungsabgren zungen und des Zusammenwirkens der Kün ste zu einem gemeinsamen Ganzen, dem vielzitierten „Gesamtkunstwerk", die wohl im 19. Jahrhundert nicht prinzipiell neu sind — man denke an die Tradition der „paragoneProblematik ab der Renaissance oder an das barocke Gesamtkunstwerk —, sich jedoch in völlig verwandelter Form stellen, sowie 2. Periodisierungsprobleme, die in ihrer Viel schichtigkeit wohl mit zu den zentralen Fra gen der Kunstgeschichte dieser Zeit zu zählen sind. Für den vorliegenden Zusammenhang ist fer ner festzuhalten, daß der überwiegende Teil der bisher vorgelegten Ansätze aus der Un tersuchung von verschiedenen Bereichen der Profankunst als führende Aufgabe der Zeit^ gewonnen wurde, wobei nunmehr das Feld der Sakralkunst, trotz seiner unbestritte nen Sonderstellung mannigfach mit dem künstlerischen „Hauptstrom" verwoben, neue Illustrationsmöglichkeiten eröffnet. Die erwachende Bewegung zur Erneuerung der christlichen Kunst trat allenthalben — vor allem in England und im deutschen Raum — mit einem ausgeprägt universalistischen An spruch auf, wobei von Anfang an die Durch dringung von Kunstübung und Heilslehre nach dem Vorbild des „christlichen Lebens" gefordert wurde.® Diese umfassende Kon zeption mußte zu einer sehr weiten Definition des Kunstbegriffes führen, wie denn auch au ßer der Architektur und der bildenden Kunst unter Einschluß aller Gattungen des Kunst handwerkes bis zur Reproduktionskunst wie dem Farbdruck auch kirchliche Poesie und Musik als Teile des kirchlichen Gesamtkunst werkes aufgefaßt wurden.® Die Tatsache, daß die Christlichen Kunstblätter in den früheren Jahren ihres Bestehens nicht nur als Organ des Diözesankunstvereines, sondern auch des Diözesan-Cäcilienvereines für kirchliche Musik dienten, zeigt, wie sehr diese Auffas sung auch in Oberösterreich geteilt wurde." Zielpunkt des kirchlichen Gesamtkunstwer kes ist nun vorrangig die „Ecciesia" als Ort des christlichen Kultgeschehens: „Wir verste hen unter kirchlicher Kunst die Kunst im Dien ste der Kirche, und es wird hier zunächst nur von dieser gehandelt."® Die immer wieder geforderte künstlerische Gestaltung des litur gischen Bereiches, also des Gottesdienstes in dem ihm eigenen, „würdigen" Gehäuse, bedingt unwillkürlich eine Ästhetisierung des gesamten Bereiches, dem in den theoreti schen Äußerungen durch eine betonte Auf rechterhaltung des Primates des moraltheo logisch „Guten" über das „Schöne" gegengesteuert wird.® A. Verbeek hat in diesem Zusammenhang zum ersten Mal auf die begriffliche Nähe dieser kirchlichen Posi tion zu Richard Wagners „Vereinigung der Künste aus dem Geiste der Musik" verwie sen, die der Komponist in der 1849 erschiene nen Schrift „Das Kunstwerk der Zukunft" for dert;^ ohne hier eine unmittelbare Abhän gigkeit der kirchlichen Kunsttheorie postulie ren zu wollen, dürfen diese Parallelen doch als symptomatisch für die künstlerische Si tuation der Jahrhundertmitte betrachtet wer den: sowohl Wagner als auch der kirchlichen Kunsttheorie eignet eine starke Gegnerschaft zur klassizistischen Grundhaltung der Isolie rung der Kunstgattungen, wobei sich im kirchlichen Vorstellungsbereich die Hinwen dung zur „heidnischen" Antike mit den Feind bildern von „gottloser" Aufklärung und — in Österreich — dem intensiv bekämpften Jo sefinismus verband. Somit wird hier ohne Zweifel durchwegs Gedankengut der Roman tik aufgegriffen, und es verwundert nicht, wenn eben in der kirchlichen Kunst die ro mantischen Bilderfindungen der Nazarener eine außergewöhnlich starke und langlebige Tradition entwickeln, die von den späteren Er rungenschaften der Kunst des 19. Jahrhun derts nur oberflächlich berührt wird und erst mit dem Anbruch der Moderne langsam aus läuft. Auf die hier greifbaren Zusammenhän ge zwischen künstlerischer Grundhaltung und Chronologie wird in der Folge zurückzu kommen sein. Nun würde sich das Bild kirchlicher Kunstauf fassung im Berichtzeitraum allerdings verzer ren, wollte man den Wandel im Verhältnis der einzelnen Kunstgattungen zueinander unbe rücksichtigt lassen, wie er am Beispiel des oberösterreichischen Denkmälerbestandes in Verbindung mit den einheimischen Äuße rungen zur Kunsttheorie ablesbar ist.® Die Abneigung der Aufklärung gegen das plasti sche Kultbild wird ab ungefähr 1830 langsam überwunden, die mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sind von einer unüberseh baren Vorherrschaft der Plastik über die Ma lerei im Bereich der gesamten Kirchenaus stattung gekennzeichnet, die so weit gehen konnte, daß bereits 1866 der Priester Wilhelm Pailler seine Zeit als eine „sculptursüchtige"® bezeichnet. Die Gründe dieses Wandels zum dreidimensionalen Kirchenkunstwerk dürften sehr vielschichtiger Natur sein, neben dem Bestreben zur Wiedererweckung einer „ein drücklichen", leicht lesbaren Sakralkunst und der Orientierung an den figurenreichen Vor bildern aus dem Mittelalter (und gegen Ende des Jahrhunderts auch an Barockaltären), wird wohl auch hier ein allgemeiner Bezug zur Tendenz der Zeit zu plastischem Schaffen zu berücksichtigen sein. Erst das ausgehen de 19. Jahrhundert brachte einen gewissen Ausgleich zwischen den Schwesterkünsten, wobei die Formgelegenheit Altarbild erst mit der weiteren Verbreitung des neubarocken Altares wiederum in größerem Umfang An wendung finden konnte; in Oberösterreich darf das Werk des aus Tirol eingewanderten Malers Andreas Strickner (1863—1949) als Paradigma dieser Entwicklung gewertet werden.^® Neben den Monumentalkünsten erfreute sich das Kunstgewerbe einer besonderen Förde rung von selten des Klerus; die zahllosen Neuanschaffungen von liturgischen Geräten aller Art, Paramenten, Kirchenfahnen u. a. m., vervollständigen erst das Gesamtbild der historistischen Kirchenkunst. Die Bedeu tung dieser Gegenstände, die in weit geringe rem Maß „Öffentlichkeitscharakter" tragen als die Einrichtungsgegenstände und Kirchen möbel, wird nicht zuletzt an den dafür aufge wendeten Mitteln deutlich, wenn zum Bei spiel für den Marienornat des Linzer Domes nicht weniger als 28.000 Kronen bezahlt wur den,wohingegen etwa zur gleichen Zeit ein einfacher Seitenaltar für eine Landkirche nicht mehr als ungefähr 1000 bis 2000 Kro nen kostete.^® Man wird somit — will man der Kunstübung des kirchlichen Historismus gerecht werden — die Ensemblefunktion des Einzelwerkes immer berücksichtigen müssen, dieses nie mals aus einem künstlerischen Zusammen hang gelöst betrachten, da es erst aus der Einbindung in diesen seine eigentliche ästhetische Zielsetzung erhält. Darüber hin aus — und dies unterscheidet auch das sa krale Gesamtkunstwerk des 19. Jahrhunderts von seinen Vorgängern im Barock — wird man es nur schwer ausschließlich mit den herkömmlichen ästhetischen Kategorien be trachten dürfen, da ihm, durch die kulturge schichtliche Situation bedingt, keine reine Ei genwertigkeit, sondern eine primär „dienende" Funktion zugewiesen wurde; dieser bereits angesprochene Primat des theologischen Elementes hat diesen gesam ten Kunstzweig in einem Ausmaß beeinflußt, das über die Formgebung weit hinaus geht. Noch weitaus komplizierter als diese Fragen stellen sich die Probleme der Periodisierung dar. Lehnt man die — zweifelsohne von Vor41
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