Oberösterreich, 34. Jahrgang, Heft 4, 1984

Ein erlebnisreicher Nachmittag Herr Oberstudienrat Dr. Markus Ansorge war seit Schulende im Ruhe stand. Es fiel ihm einerseits nicht leicht, nicht mehr unterrichten zu dür fen, andererseits aber war er froh, sich nun ganz seinen Neigungen wid men zu können, wozu er seit Jahrzehnten kaum Zeit und Muße hatte. Er war, was die wenigsten wußten, ein heimlicher Dichter, schrieb er doch schon seit seiner Knabenzeit Gedichte und kleine Erzählungen, später auch dann und wann einen Essay und, was er sich selbst nicht gerne ein gestand, ein Bühnenstück über die Problematik der Ehe; war er doch nach drei gescheiterten Ehen ein Gezeichneter, der alle seine Erfahrungen, Erschütterungen, Irrungen und Wirrungen, Bekenntnisse und die daraus resultierenden Erkenntnisse in diese Tragikomödie hineinlegte. Wenn er, was sehr selten der Fall war, seinen Freunden, einem kleinen il lustren Kreis von Gleichgesinnten, Lyrisches und Episches aus seiner Fe der zu Gehör brachte, über sein Stück sprach er nie. Er hielt es verschlos sen in der untersten Lade seines Schreibtisches. Nicht, daß es — nach landläufiger Redensart — dorthin gehörte, nein, aber er wollte es so tief wie möglich in seinem Innersten bewahren und unter Verschluß halten. Es war zuviel Persönliches darin verarbeitet. Daher seine Scheu, es ein mal doch jemandem vorzulesen; obwohl er manchmal eine fast perverse Lust verspürte, die eine oder andere markante Szene einer sehr selbstbe wußten Frau an den Kopf zu schleudern. Letzten Endes unterließ er es im mer wieder, um niemanden wehe zu tun und kasteite sich mit Schweigen, Markus war eben ein etwas introvertierter Typ, der sich zeit seines Lebens in sich selbst zurückzog, was nicht heißen soll, daß er nicht auch in fröh licher Runde bei einem guten Glas Wein sich wohl fühlte. Ja, er brauchte diese Ausflüge in die für ihn abenteuerliche Welt der Geselligkeit. Schöpf te er doch aus ihnen die Kraft, sich in seinen einsamen Stunden wieder musisch voll ausgeben zu können. Mit Sehnsucht dachte er in den ersten Monaten seines Ruhestandes an die Schule zurück. Er war, was man ihm in all den Jahren seines Wirkens am Gymnasium immer wieder bescheinigte, ein guter Lehrer, ein Pädagoge aus Berufung, der bei den Schülern und Kollegen und bei den Eltern, be sonders bei den Müttern, sehr beliebt war. Kein Wunder, ging er doch ganz in seinem Beruf auf. Da er Latein und Deutsch unterrichtete, war er immer sehr in Anspruch genommen, denn seine Gewissenhaftigkeit, die zeitweise in Pedanterie ausartete, erlaubte es ihm nicht, die Aufgaben hefte seiner Schüler nur flüchtig durchzulesen und sie daher auch nur oberflächlich zu beurteilen. Auf Grund seiner Erfahrungen und weil er seinen ihm anvertrauten jungen Freunden, wie er sie narmte, sehr zugetan war, besserte er manchen grammatikalischen, orthographischen und sti listischen Fehler zu ihren Gunsten aus und benotete sie sehr milde. Auch hatte er die Bebens- und lobenswerte Angewohnheit, seine Vorträge an ekdotisch aufzulockern. Trotz seines scheuen, kontemplativen Wesens und seiner rührend-linkischen Art wurde er nie gehänselt und versuchte dies ein Neuhinzugekommener, so wurde dieser durch die anderen sofort zur Räson gebracht. Mit einem Wort: Herr Dr. Ansorge und seine Schüler waren ein Herz und eine Seele, was schon früher eine Rarität war, im heutigen hektischen Schulbetrieb aber höchst unwahrscheinlich ist. Markus, der sich seit einigen Monaten scherzhaft als Emerit, also als ein „Ausgedienter" bezeichnete, behielt auch im Ruhestand seine alltäglichen Gewohnheiten bei, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Er stand, wie immer, um sechs Uhr früh auf, kochte sich einen nicht zu star ken Kaffee, aß dazu sein spartanisches Frühstück — Knäckebrot und Topfen —, trank sein Gläschen Schnaps, einen ungebleichten, um seinen Kreislauf zu regulieren, wie er sagte, wusch sich sorgfältig, rasierte sich, fuhr sich mit dem Kamm einige Male durch sein schütteres Haar, zog sich leger an und ging dann ins Wohnzimmer. Dort stellte er sich ans Noten pult, nahm seine Geige zur Hand, verweilte ein paar Minuten, um sich zu konzentrieren tmd spielte dann, wie jeden Morgen, seit er nicht mehr zur Schule gehen mußte, eine Violinsonate von Johann Sebastian Bach. Er spielte sie, einmal mehr, einmal weniger exakt, aber immer mit einer Hingabe und Ausdauer, die ihn zeit seines Lebens ausgezeichnet hatten. Gelang ihm eine schwierige Passage besonders schön, fühlte er sich als der glücklichste Mensch auf der Welt. Nachdem er das Spiel bis zum Ende genießerisch ausgekostet hatte, bettete er die Geige in den sie be schützenden Kasten und ging noch einmal ins Badezimmer, wiederholte die Reinigungsprozeduren, da er beim Spielen immer sehr ins Transpirie ren kam, trocknete sich gut ab, zog sich nun komplett an und setzte sich dann für eine Weile in den ererbten Ohrenstuhl, lehnte sich zurück, schloß die Augen und lauschte in sich hinein. Es durchströmte ihn eine fast überirdische Freude bei dem Gedanken, nur mehr Herr seiner selbst zu sein. Dann, nach geraumer Zeit, nahm er ein Buch zur Hand und las — wie alle Tage — eine Stunde lang. Er las sich kreuz und quer durch die Weltliteratur, verdaute hie und da auch Profanes, doch am liebsten waren ihm die Klassiker, allen voran der Weltbürger Goethe. Um auf dem . laufenden zu bleiben, griff er sporadisch auch zu den Büchern moderner Autoren, die er besonders wegen der minderen Seitenzahl und der leicht lesbaren Großschrift schätzte, weniger des Inhaltes und des sprachlichen Ausdrucks wegen. Er ärgerte sich bei der Lektüre oft über die schlampige Schreibart, über die vielen Fehler im allgemeinen und.wunderte sich im mer wieder, wieviel Banales und Degoutantes heutzutage gedruckt wur de, was früher in den Papierkorb kam. Dann griff er, um seine verstörte Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen, zu einem philosophischen oder soziologischen Werk neueren Datums. Aber auch da gab es außer Linksgedachtem nur Aufgewärmtes. Am meisten brachte es ihn aus der Fassung, wenn er während des Lesens durch einen Telephonanruf gestört wurde, denn er hörte selten etwas Er freuliches. Meist waren es falsch Verbundene, die sich nie entschuldigten, dann wieder Freunde, die sich nach seinem Befinden erkundigten und vor allem Damen aus dem literarischen Zirkel, der sich in dem Landstädt chen, in dem er jetzt wohnte, etabliert hatte und dessen Ehrenmitglied schaft er sich nicht hatte entziehen können. Ganz selten riefen seine drei Exgattinnen an und wenn, dann nur, um etwas von ihm zu erbitten oder zu erzwingen. Wie gesagt, er hatte einen beinahe neurotischen Horror vor Telephonanrufen. In letzter Zeit rief ihn, häufiger als ihm lieb war, eine Dame aus dem lite rarischen Zirkel an. Sie war, wie viele Frauen heutzutage, den schönen Künsten, besonders aber der Literatur zugeneigt. Und da sie sich, wievie le andere auch, von ihrem Gatten — ob zu Recht oder zu Unrecht, sei da hingestellt — vernachlässigt fühlte, schrieb sie, einem modischen Trend folgend und um sich über sich selbst ins klare zu kommen, langzeilige Ge dichte, seitenlange Briefe und rhapsodische Erzählungen. Sie war eben sehr kreativ, wohl erst seit kurzer Zeit, dafür aber desto intensiver. Er nahm, um sich zu entspannen, Schopenhauers Traktat „Über Schriftstellerei und Stil" zur Hand und blätterte ihn durch. Dieser Meister des Stils war ihm ein wichtiger Kronzeuge gegen das pseudoliterarische Kau derwelsch mancher pseudomoderner lyrischer Silbenstotterer und epi scher Bandwurmerzeuger. Gerade, als er sich an der Stelle „Gegen die ge wissenlose Tintenkleckserei unserer Zeit und gegen die demnach immer höher steigende Sündflut unnützer und schlechter Bücher . . ." delektier te und schmunzelnd feststellte, daß es auch damals schon viel Ärger mit den Möchte-gern-Dichtern gab, klingelte das Telephon. Widerwillig und erst nach dreimaligem Läuten griff er zum Hörer. Es war — er hatte es ge ahnt — jene besagte Dame aus dem literarischen Kreis, die sich ihm seit einiger Zeit besonders hingezogen fühlte und ihn — was ihm zuwider war, ihren Seelenfreund nannte. Nicht, daß sie ihm mißfiel; nein, sie war, wie man hierzulande sagt, eine riegelsame Mittvierzigerin, reif wie ein Kornfeld vor dem Schnitt und nicht ohne Charme und sinnliche Aus strahlung. Aber er vermied Komplikationen. Er wollte sich seine Ruhe nicht stören lassen, auch nicht um den Preis eines verliebten Abenteuers willen. Also fragte er etwas grantig, was sie zu so früher vormittäglicher Stunde von ihm wolle. Leise und mit leicht-erotischem Vibrato in der Stimme antwortete sie, daß sie heute einen freien Nachmittag habe, da 93

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