Unbekanntes Österreich - ,,Erfahrung einer Landschaft' Mühlviertel - Waldviertel - Weinviertel Spricht man von Mühlviertel, Waldviertel und Weinviertel, so han delt es sich dabei um einen Teil Österreichs, der - zumindest unseren ausländischen Gästen - noch weitgehend unbekannt ist. Viele, die einmal in Österreich waren, kennen sicher eher andere Gebiete unse res Landes, z. B. Salzburg, Tirol und Kärnten, und für sie sind die Städte Salzburg, Innsbruck, Wien oder Kitzbühel klingende Namen. Doch kaum jemandem sagen Ortsnamen wie Rohrbach, Freistadt, Gmünd, Horn, Laa/Thaya oder Mistelbach etwas. Diese örte liegen in dem genannten Gebiet, im nördlichen Heil Österreichs, welches durch die natürliche Grenze der Donau im Süden, von Passau über Linz, Krems, Wien und Hainburg, im Westen durch cUe Staatsgrenze zur BRD und im Norden und Osten durch die zur CSSR eingegrenzt ist. Es sind drei Landschaftsviertel, von denen eines, nämlich das Mühl viertel, zum Bundesland Oberösterreich gehört und die zwei ande ren, das Wald- und das Weinviertel, zum Bundesland Niederöster reich. Mühlviertel und Waldviertel haben, sowohl was den geologi schen Aufbau als auch das Landschafts- und Siedlungsbild und die Agrarformen betrifft, etwas sehr Gemeinsames: sie sind eine Urge steinslandschaft mit hartem Gestein aus Granit und Gneis, über dem nur eine dünne Humusschicht liegt. Der Boden ist karg und steinig, das Klima rauh. Die Ausläufer des Böhmischen Granitmassives zie hen sich als Teile des Bayerischen Waldes, des Böhmerwaldes und des Nordwaldes ins Land hinein. Die Landschaft steigt stufenförmig von der Donau, die sich in tiefen Schluchten ihren Weg bahnt und in die auch, meist senkrecht, die in tiefen Tälern eingeschnittenen Flüsse münden, zum Hochwald des Böhmerwaldes und des Freiwal des an. Das Mühlviertel, vor allem das westliche, ist noch zerklüfteter und karger als das Waldviertel. Das Weinviertel hingegen, von bei den Vierteln von der Donau aufsteigend durch den Manhartsberg ge trennt, ist fruchtbares Lößland, wenig mit Wald bewachsen; sein Landschaftsbild zeichnen sanfte Hügelebenen mit seit Jahrhunderten bestehenden Weingärten; statt Viehzucht und grünen Wiesen gibt es reichen Ackerbau, Korn und Zuckerrüben. Im Gegensatz zu anderen, bereits üppig vom Fremdenverkehr er schlossenen Teilen unseres Landes, wie z. B. das Traunviertel, Salz burg, Kärnten, Tirol, in denen der Urlauber, die Attraktivität eines gewaltigen Landschaftserlebnisses suchend, vielleicht schon allzu sehr einem gewissen, sehr gesteuerten Massentourismus zum Opfer fällt, gibt es im Gebiet des Mühl-, Wald- und Weinviertels keinerlei Tourismus dieser Art, ja der Tourismus in unserem Sinne ist dort noch weitgehend unbekannt. Man fährt dorthin, nicht um einen spektakulären Urlaub zu machen; es gibt weder ausgeprägte Winter sportgebiete noch den sonst schon gewohnten üblichen Rummel am See. Die Gegend ist dort noch ruhig. Erst seit kurzer Zeit gibt es so et was wie Bestrebungen zur Installierung eines Fremdenverkehrs. Man fuhr und fährt ins Mühlviertel, Wald- oder Weinviertel nicht in erster Linie deswegen, um irgendwelchen modischen Freizeitinteressen nachzugehen, sondern einfach der Erholung wegen; früher nannte man das ,,in die Sommerfrische fahren". Man fährt hin in dieses Land, um abzuschalten, weil man großstadtmüde ist; man fährt hin, um Tage der Ruhe, des Ausspannens, der Besinnung zu haben, der Möglichkeit sich selber wiederzufinden; man fährt hin, weil man kei nen weiten Anfahrtsweg von den Zentren Wien oder Linz hat, weil man bequem mit dem Auto oder mit öffentlichen, sehr gut funktiorüerenden Verkehrsmitteln in ein bis zwei Stunden am gewünschten Ort und in der geliebten Landschaft ist. Vor allem gilt dies für Urlau ber mit Kindern, weil in diesem kinderreichen Gebiet Kinder gern ge sehen werden. Man fährt hin wegen der Ruhe und der Stille, die in diesem Land ist, und von der man hofft, daß sich diese Stille einem mitteilt und auf einen selber übergeht. In letzter Zeit zieht es immer häufiger und immer mehr Menschen, vor allem Bewohner der Großstadt Wien und der Landeshauptstadt Linz, sei es nur für ein paar Stunden, sei es für einige Tage oder auch Wochen, dorthin hinauf. Dabei ist es zu einem bemerkenswerten Phänomen gekommen: aus wirtschaftlichen Gründen, die lange in die Tradition zurückreichen, ist es im genannten Gebiet zu einer im mer mehr um sich greifenden Landflucht gekommen. Die kleinen, ja oft winzigen landwirtschaftlichen Betriebe ernähren angesichts der allgemeinen Umstrukturierung in der Agrarwirtschaft den Mann, und vor allem, wenn er FamUie hat, seine Familie nicht mehr. Beson ders wenn man den Maßstab eines immer mehr propagierten und gewohnten Lebensstandards verwendet. Es kam und kommt deshalb zu einer allgemeinen Flucht in die Stadt, sei es, daß die zu Neben erwerbsbauern gewordenen als Pendler täglich einen weiten Weg zu rücklegen, um in den Industriebetrieben der Städte zu arbeiten, oder überhaupt in die Stadt gänzlich abzuwandern. Umgekehrt jedoch gibt es immer mehr Menschen, die von der Stadt aufs Land ziehen, sei es, wenn sie in Pension sind und sich dort zuerst einen Zweitwohnsitz gründen, an den sie später dann für immer hin ziehen. Sehr viele junge, nicht mehr konsumorientierte Leute ziehen hinauf in dieses Gebiet und suchen nach einem Platz, an dem sie le ben können. Vor allem sind dies Menschen, die beruflich nicht unbe dingt an die Stadt gebunden sind, z. B. viele Künstler, ob es nun Bildhauer, Maler, Musiker oder Schriftsteller sind. - Was treibt sie dazu? Vielleicht die Situation in den Städten, die eine Lebensform bedingt, daß man langsam das Gefühl bekommt, am Leben vorbeizu gehen, im Sinn auch von einer Entfremdung vom eigenen Ich, die Angst und Befürchtung, in dieser Hektik und Isolation des Groß stadtlebens sich zu verlieren und zugrundezugehen. Warum ist diese Gegend, wo das Leben mit sehr viel Beschwernis verbunden ist, für gewisse Menschen so attraktiv geworden? - Nun, ich glaube, weil sich in ihr so etwas wie Ursprünglichkeit, Einfachheit und Lebens nähe erhalten haben. So bekennt der österreichische Dichter und Schriftsteller Herbert Eisenreich, der schon vor über 20 Jahren als einer der ersten sich jahrelang in das Dorf Sandl bei Freistadt im unte ren Mühlviertel zurückgezogen hatte und dort lebte, sein Gefühl und sein Bewußtsein zu diesem Land, wenn er sagt:, ,Hier endlich hab' ich denn auch gelernt, worauf das Gefühl, eine Heimat zu haben, uns eigentlich hinweist: auf den zutiefst gemeinsamen Ursprung alles Seienden . . . denn jetzt weiß ich, wo es dem Menschen wirklich gut geht: wo er sich eins fühlt mit dem Kosmos. Und wenn man mich trotzdem fragt, wieso ich gerade auf dieses karge, nach außen fast spröd sich verschließende Land verfallen sei, dann kann ich nur ge stehen: Weil es mir offenbar bestimmt ist, so zu leben, wie dieses Land aussieht ... an vielen Orten bin ich gewesen, und überall gern; von allen bin ich weggegangen, zwar wohl mit Dank, aber ohne Ab schiedsschmerz. Von hier zu scheiden käme mir heut' no^h vor, als stürzte ich aus der Welt." Es muß also etwas ganz Eigenes und Besonderes sein, das von dieser Landschaft und der damit verbundenen Lebensform ausgeht, den Menschen gefangennimmt und ihn erfüllt. Ich würde sagen, daß diese Landschaft den Menschen zu sich selber zurückführt und da durch glücklich machen kann. Ich selbst bin ein Kind dieses Landes, in einem kleinen Ort am Aus lauf des Böhmerwaldes, ganz nahe der tschechischen Grenze, gebo ren und stamme somit aus einer Gegend, die der große Adalbert Stif ter, der in seinen Werken zum großen Erkenner und Beschreiber die ser Landschaft geworden ist, als ,,Traum einer Landschaft" bezeich net hat. Ein kurzer Auszug aus einer solchen Naturschilderung Adal bert Stifters scheint mir am besten dazu geeignet, das Wesentüche der Landschaftserfahrung am Mühlviertel zu verdeutlichen: , ,Im späten Herbste und im frühen Winter liegt oft der Nebel wochen82
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