Oberösterreich, 33. Jahrgang, Heft 2, 1983

Wels — Stadt der oberösterreichischen Landesausstellung 1983 Wels — Stadtprosa Wilfried L. Lipp UST Spuren Auch Städte hinterlassen Spuren. Spuren Ih res Fortgangs, von der Gründung oder mähli chen Niederlassung fort in die offene Zeit. Auch Städte suchen ihren Ort, so wie Tiere sich lagern, wählen und das Terrain abstek ken. Natur und Geschichte, ein - endlich-ewi ges Thema. Aber nicht von diesen Spuren will ich reden am Anfang einer Geschichte, die von Eindrücken und Ausdrücken einer Stadt, von den dauern den Kämpfen, aber auch von der Zuneigung zwischen Jetzt und Einst erzählen soll. Son dern ich will voran jenen Kerben nachspüren, die in mir selbst Spuren hinterlassen haben. Spuren-nachspüren. In dieser begrifflichen Symbiose wird verständlich, daß von sehr per sönlichen Motiven, von Motiven dessen, der sich selbst In den tieferen Lagen seiner ganz eigenen Vergangenheit erspürt, die Rede ist. Wels leuchtet mir in die Kindheit als ganz be sonderes Juwel. Hier bin ich, noch vor aller Vermittlung, vollkommen In der Totalität des Staunens, der exilierten Spanischen Reit schule begegnet. Ich denke an einen herbstli chen Vormittag - es muß vor 1955 gewesen sein -, als ich mit meinem Vater am Rande des Vorplatzes der Alpenjägerkaserne stand und den weißen Pferden mit ihren livrierten Reitern zusah. Erst viel später wußte Ich das, was sich hier vor meiner aufkeimenden Bewunderung ereignete, auch zu benennen: Travers und Renvers, Piaffe und Passage, Courbette und Croupade, Pirouette und Levade. Die Ge schichte hätte keine Bedeutung, wenn sich aus dieser Begegnung nicht zwei für mich wichtige Lebensstränge abgeleitet hätten: die von da an ungebrochene Liebe zu Pferden und die damit verbundene Neigung zur Ästhe tik, die sich endlich mit Pflicht verbinden sollte. So, letztlich, begann in Wels eine Geschichte, die für mich Kunst-Geschichte geworden ist. Lange auch bevor mir Wien mehr als bloß ein ephemärer Begriff war, keimte in Wels, in der Emigration der Lipizzaner, die Sehnsucht nach geschichtlicher Heimkehr. Ganz unbestimmt und in der Naivität kindlichen Empfindens war es wohl das erste Gefühl dessen, was man heute Nostalgie nennt: das Heimweh nach dem, was einmal war. In der Dialektik dieses Empfindens lag aber auch damals schon de ren Kehrselte: die Sehnsucht nach dem, was noch nicht ist, der utopische Grund eines jegli chen Lebens. Begegnung Bevor man als Fremder eine Stadt in ihrer Ei gentlichkeit kennenlernt, lernt man sie von da her, von wo man selbst kommt. Das heißt, man nimmt immer ein Stück seiner eigenen Umge bung mit und so öffnete sich Wels für mich ganz selbstverständlich von Linz her. Wels er leben - und das steht hier paradigmatisch für alle Städte - Ist also ein kulturelles Phänomen, abhängig von Zeit und Befindlichkeit. Aufs Räumliche gebracht, ist es das Phänomen von Distanz und Nähe. Von Linz aus liegt Wels noch In der Peripherie der eigenen. Und da sich die Stadt mir ursprünglich von der Eisen bahn her erschloß, wurde mir der Zusammen hang von naher Entfernung und entfernter Nähe bald bewußt. Erst In der Entwicklungs geschichte meiner selbst wurde mir eine Reise in solch räumliche Peripherie auch eine in die zeitliche, eine Reise in die Vergangenheit. Mein Bild der Stadt gewinnt seine Schärfe vom Rande her, von den äußersten Ringen, die sich um alle Städte als Ihnen eigentümliches Niemandsland schließen. So beobachtete ich schon früh, aus dem Fenster des Zuges blikkend, daß Veränderung des Ortes den Wandel in der Zeit intensiver erleben läßt, als das im Selbstverständnis der Kontinuität alltäglicher Lebenswelt der Fall Ist: ein verfallendes Hei dehaus, eine neue Fabrikshalle, der rasend sich beschleunigende Prozeß der Landnah me. Eine ständige Entgrenzung charakteri siert dieses Gebiet zwischen Linz und Wels. Distanz und Nähe geraten in Kongruenz. Städte wachsen oder wuchern, sagte man frü her. Aber was hier und überall wächst und wu chert, Ist nicht Urbanes, sondern Auswuchs der Industriekultur. Und Insoferne ist nicht nur das Land, nicht nur Natur, sondern ebenso die Stadt selbst In ihrer Urbanität bedroht. Die seit der Prozessualisierung des technischen Fort schritts sich beschleunigende Vernetzung der Welt hat vor den Stadttoren nicht Halt ge macht: Die Metapher gilt auch wörtlich: 1842 fällt das Trauntor, 1879 wird nach dem Brand das Fischertor nicht mehr aufgebaut, 1875 sind die Tage des Schmiedtores gezählt. Ver gessen. Eindruck Im Laufe der Jahre so vieler Begegnungen stellt sich Vertrautheit ein. In einer Stadt zu Hause zu sein, ist unabhängig davon, ob man auch in ihr wohnt. Wie viele Menschen sind in diesem Sinn trotz aller Behausung nie zu Hau se: Auch die Heimatstadt ist so nicht jedem Stadtheimat. Diese erschließt sich nur dem, der die Wege kennt, auch jene, die die Stadt selbst In ihrem Gang genommen hat. Meine ersten Eindrücke daran, daß eine Stadt Ge schichte hat, haben wenig mit HistorikerStadtgeschichte zu tun. Es sind Eindrücke von Veränderungen, auch ganz im kleinen. Der Abbruch des Semmelturmes am Kalser-Joseph-Platz und das an seine Stelle Anfang der sechziger Jahre getretene Hochhaus trifft selbst die Bewußtlosen. Aber die Geschichte einer Stadt ist nicht nur in solchen Großbuch staben geschrieben, die Seiten füllen Kleinge drucktes: Geschäftsportale öffnen sich der Zeit, Slogans verlleren ihren Sinn, Schilder wechseln ihre Signatur, Häuser schminken sich oder tauschen ihr Gesicht. Und wie so oft: das Verjüngte veraltet am allerschnellsten. In den Vorstädten, außerhalb der eingehegten Kernbezirke, vollzieht sich der Wandel unbe merkter und selbstverständlicher. Kein Auf schrei, keine Bürgerinitiative, keine Medien kampagne hindert hier den Zugriff der immer sich von alier Geborgenheit fortbewegenden Zeit. Was gewiß schien, löst unvermittelt sich ins Ungewisse: das Signum des Zeitalters, das Gefühl des Provisorischen, dem keine Dauer trotzt, gewinnt Dominanz. Erinnerung Im Gegenzug zu den bislang geschilderten Zufälligkeiten der Bewahrung und Aufbewah rung im Gedächtnis leistet Erinnerung die Auf hebung des Vergessens. Erinnerung setzt also Vergessen voraus. Die Wirklichkeit des Einst, olim hic et nunc, sinkt in die Entwirkli chung des Vergessens ab und muß durch Er innerung eingeholt werden. Vergangenheit als solche Ist nur als erinnerte bewußt. Stadtver gangenheit streng genommen ist also jene, die sich einmal in die Gleich-Gültigkeit des Vergessens entwirklicht hat und als erinnerte der Gegenwart vorgestellt wird: Die Frage, was die Polheimer, was die Herzöge Albrecht II. bis V., Kaiser Friedrich III., Maximilian I., was die Freisauf, Grundner, Harrer und Weiss, was Herberstorff, Graf Khevenhiller, was die Baumeister Johann Michael Prunner und Wolfgang Grinzenberger usf. für das Wels von heute bedeuten, beantwortet die Stadt selbst. Die Legion der Namen und Namenlosen, die Taten und Untaten, die Ereignisse und die vergeblichen Bemühungen sind Stationen des Gewordenseins. Aber auch das Ungewordene in der Geschichte einer Stadt gehört zu ihrem Bestand als unerfüllte Sehnsucht, daß es an ders hätte werden können. Historie - bloß gestreift Wels: Burg, Schloß Polheim, Stadtplatz, Ringstraße, Kaiser-Josef-Platz im inneren Kern; Fischergasse, Fabrikstraße als alte An nexe und dann die räumliche Dehnung im 19. Jahrhundert. Alle Straßen, Plätze, Häuser sind gegenwärtige Geschichte, sind Gegenwart nur vermittels ihrer Geschichtlichkeit. Bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts reichen die Linien des Stadtplatzes, einer im Ursprung baben bergischen Anlage zurück, die Burg ist in ih rem Mitteltrakt noch wesentlich Ausdruck der maximilianischen Adaptierung um 1514, das Polheimer Schloß ragt aus den mittelalterli chen Keimzellen der Stadt ins Heute. Die Pfarrkirche, die Bürgerhäuser der Aitstadt, die Freihäuser der Stifte und des Adels, die 91

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