Kunst der Gegenwart Gedanken über die Schrift Friedrich Neugebauer William Massey stellte die Frage: „Woher kam die wundersame geheimnisvolle Kunst, die Sprache zu malen und zu den Augen zu spre chen? Die uns lehrt, magischen Linien zu fol gen und dem Gedanken Gestalt und Farbe zu geben?" Wir wissen es nicht. Rudolf von Larlsch sagte:,,Schrift kommt vom Schreiben." Wer sich mit Schrift befaßt, kommt in die Be zirke der frühesten Anfänge menschlicher Be ziehungen und ihrer Deutung und deren Ver tretung in jeder Beziehung. Alle Buchstaben waren zuerst Zeichen, alle Zeichen waren zuerst Bilder. Solange wir uns der Zeichen des Alphabetes bedienen, wer den wir von der Vergangenheit abhängig sein. Schrift ist die optische Übersetzung der Spra che. Sie ist Partitur der Sprache. Auf Zeilen läuft die Dynamik der Sprache ab mit Buch staben, Zeichen, Intervallen, Interjektionen, ein geschlossenes Bild maximaler optischer und begrifflicher Formulierung. Eine Anatomie des unbewußt Verborgenen wird in der Schrift offenbar und lesbar- es gibt keine Möglichkeit der Verstellung, die nicht so fort erkannt wäre. So sehr ist die persönliche Schrift feinster Detektor des eigenen Wesens; so sehr ist Schrift Beichte des Zustandes des Schreibers, Partitur aller seiner Zustände, sei ner bewegenden Impulse und Empfindungen, die ihn während der Mitteilung bewegen. Wer schreibt, unterwirft sich einem Rhythmus, der aus dem Puls, dem Takt des Blutes kommt. Ein Kardiogramm eigener Art von Hebung und Senkung, eine echte, direkt sichtbare Über setzung sichtbarer Zustände. Jede Bewegung als geistige Handlung findet ihr adäquates Zeichen. So ist die Schrift: königlich und demütig, nied rig und erhaben, verworren oder in freier Ord nung und Selbstbewußtheit. Eine große Pro zession aller Verfassungen des Menschen seiner Zeit im Rhythmus einer sich vollziehen den bedeutenden Handlung. Von allen Völkern haben die Gebildeten nir gends ein so klares geistiges Verhältnis zur Schrift wie der kultivierte Chinese. In China werden die Schriftzeichen noch heute als le bendiger Ausdruck graphischer Kunst emp funden und gewürdigt. In der kraftvollen Schönheit dieser Zeichen schwingt für den kultivierten Chinesen göttliches Geheimnis: für ihn ist die Schrift genau wie jede gute Zeichnung oder Malerei verehrungswürdiges Kunstwerk. Bei uns, und nicht nur in Österreich, ist der Durchschnitt der gebildeten Leser von solch feinem Formempfinden noch weit entfernt; er gibt sich im allgemeinen schon zufrieden, wenn eine Schrift „leserlich" ist. Aber die Le serlichkeit einer Schrift beweist für deren for male Qualitäten absolut nichts; sie ist einfach Kieiia 13/AUCR FKiei.) Titelblatt des Kataloges, den Friedrich Neuge bauer als Sonderdruck des Verlages Neugebauer Press zu seiner Ausstellung im Stadtmuseum LInz-Nordico im November 1982 herausbrachte eine Selbstverständlichkeit. Zwei gleich gut leserliche Schriften können hinsichtlich ihres künstlerischen Wertes so sehr voneinander verschieden sein wie die Schöpfung eines Meisters von dem Machwerk eines Stümpers. Ohne bewußtes Sehen und ohne ein ernsthaf tes Bemühen um das Erkennen der rhythmi schen Bewegungen der Formelemente, des wohlabgewogenen Linienspiels Innerhalb der Buchstaben und des leeren Raumes zwischen den Zeichen und Zeilen, steht man dem for malen Wert einer Schrift hilflos gegenüber. Zwei große Wege der Schrift: die Handschriftdie Druckschrift. Die Hand: der persönlich bewegte Puls im Duktus und Rhythmus der Buchstaben. Die Empfindung ist beherrscht, aber immer fühl bar. Ein tief menschliches Anliegen. Die Maschine: exakt Im mechanischen Rhythmus, klar, anonym, objektiv, deutlich und unbeirrt. Diese beiden Pole der Schrift be deuten die Grundlehre. Sowohl in der Persön lichkeitsentwicklung der Handschrift, als auch in der Entwicklung der Objektivität der Druck schrift. Beide Disziplinen mit allen grundsätzli chen Charakteristiken. Eine Klammer, eine Verbindung, die beide Pole oft brauchen, um die Kraft der Mitteilung zu erhöhen, ist die Illu stration. Die llllustration, die das Bild der schriftlichen Mitteilung verdichtet oder eine kongeniale Aussage darstellt. Gerade in der Arbeit des Schriftgraphikers und Typographen, die so sehr in die Maschine mündet, in die Letter, - selbst ein Produkt in tensivster Abwägung, In den Satz - eine Musik von Note und Pause, in das Buch als Krönung jeder schrlftkünstlerischen Aufgabe, ist die kostbare menschliche Waage des Herzens, des Hirns und der Hand letztlich entscheidend. Wer sich in diesem Kreis bewegt und sich den Prozessionen der Zeichen und Buchstaben anschließt, ist gebunden an sich, an sein We sen und an die Werte der ümwelt, die er er kannt hat und die ihn bewegen. Zu dem Ange borenen kommt das Erworbene. Der Schrei ber ist damit definiert, er ist frei und gebunden zugleich. Eben ein Mensch, der nur tut, was sich in ihm findet als ein erkennender Vertreter seiner Natur und seiner Erkenntnisse des Le bens. Was ihn auszeichnet, ist die Verpflich tung zu einer Aufgabe, die auf organische Ordnung abzielt: Schrift ist Ordnung, ist Mittel zu höherem Verständnis. Es ist eine der Erfül lungen, die der Mensch mit seinen eigenen Mitteln und Kräften besorgen und zur dauern den Existenz bringen kann. Die Formung unserer ümwelt ist für Kunst erzieher und Pädagogen eine eminent wich tige Aufgabe geworden. Es ist daher überra schend, daß die naheliegende Vorstellung ,.Schrift als ümwelt", vom Gestalterischen ge sehen, bisher kaum ins Bewußtsein der Öf fentlichkeit getreten ist. Schrift ist, neben der Architektur, der augenscheinlichste Teil der künstlichen ümwelt des Menschen. Die Fülle von Gedrucktem überschwemmt und begleitet uns täglich und stündlich und wird in riesigem ümfange konsumiert. Der ausge sprochene Öffentlichkeitscharakter der Schrift verpflichtet daher den Auftraggeber und Ge stalter zu moralischer und ethischer Verant wortung. Aber auch der Konsument, die mo derne Industriegesellschaft kann sich ein vi suelles Analphabetentum nicht leisten. Wenn also Schrift in unvorstellbarem Ausmaße als ümwelt allgegenwärtig ist, dann muß die bil dende Kunst Antwort auf die Herausforderung der Schrift in unserer Zeit geben. Ich glaube auch, daß die fortschreitende Zeit genug Beweise bietet für die Notwendigkeit gesteigerter Bemühungen um eine Zusam menschau aller positiven Kommunikations mittel zu einer Kultur der Mittel des Wortes, also die Pflege der Sprache und der Schrift zur Pflicht macht, sowohl des lebendigen heuti gen, als auch des überlieferten Wortes. Sie wird sich nicht allein auf die formal-ästhetische Form der Reproduktion beschränken, sondern auch eine ,,propagandistisch" direkte und glaubhafte Form des Ansprechens herausbil den müssen. Mit anderen Worten: den hand greiflichen Geschäftsabsichten ist eine tiefere Linie einzuzeichnen, ein höherer Anspruch 65
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