Die Wachs-Hand Hände, wohin? o Hände des Menschen, Werkzeug und Waffen des Lebens, wohin? Hände haben in den Kriegen unseres Jahrgangs Taten vollbracht wie noch niemals. Mit einem Wink der Hand vollführte man Selektionen auf einsamen Bahnhofsrampen in geheimgehaltenen Lagern, ein Wink mit der Linken war Tod, ein Wink mit der Rechten hieß Fron bis zum Tod für Millionen von Männern und Frauen und Kindern. Mit einem Tasten der Hand wurden Bombenschächte aus Flugzeuggeschwadern entleert wurden Städte stumm gemacht, mit Millionen von Männern und Frauen und Kindern. Hände haben nach dem Ende von Kriegen Menschen vertrieben, mit Nahwaffen niedergemäht, gefoltert als Zeichen des Sieges unter die Panzer der Sieger gelegt. Gefühle sind blind Gedanken versagen die Hand versagt nie immer bluhger greift sie maschinenbewehrt nach immer verworrenem Zielen. Greifen nur die Bürger der frommen Stadt Brügge so beschwörend ins Morgen?, oder heben auch wir schon heimlich in Aufrulur über die blutigen schuldigen raffenden Hände hinweg eine bittende Geisterhand, Geisteshand, Wachs-Hand? Was bringt die Zukunft? Haben wir nicht Karyatiden vor den Eingängen unserer Parlamente, Karyatiden, großäugige Töchter der Griechen? Und die Griechen (wenn auch Sklavenhalter) waren Demokraten. Und die Demokraten (wenn auch altertümlich) haben überwunden alle mächtigen Reiche dumpfer Despoten, mit nichts als der Tragkraft von Menschen, Pupillen weitoffen und Worte sprechend, neue, noch niemals gehörte . . . Aus: Herta Staub: Welt als Versuch. Neue Gedichte. - Bergland-Verlag, Wien 1978 Im großen alten Dom der frommen Stadt Brügge sah ich vor heiligen Bildern seltsame wächserne Hände, zart lagen sie da durchscheinend und einer erklärte: man bittet um Heilung der Hände, man bittet, will sühnen, widmet die Wachs-Hand als Opfer. Zarter schönfingriger Wachs schaum, weißes Votivbild, Opfer ins Unerkennbare . . . 93
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