Wartung, die dritte Tombola gewann. Mein Täfelchen hatte sich näm lich Schlag auf Schlag mit den gezogenen Nummern gefüllt, und auf einmal war es voll gewesen. Unter dem johlenden Protest der Kameraden spazierte ich an den Weihnachtstisch, um den mir zukommenden dritthöchsten der Ge winste einzustreichen. Und da ging nun etwas Merkwüdiges in mir vor. Ich sah die vielen schönen Geschenke werbend vor mir ausge breitet und dachte mir: was nun? Die Offi2dere, meine Lehrer, stan den teilnehmend und belustigt um den Tisch herum und schienen auf meine Wahl begierig zu sein. In diesem Augenblick war es, daß eine abseitige Stimme zu mir sprach: ,,Du hast dich für heute bereits auf eine Stunde mit Lessing gefreut, bleib dabei!" Zugleich fühlte der Büchermensch in mir so et was wie einen geheimen GroU in sich aufsteigen, daß diesmal nur die ses einzige einsame Buch den Weihnachtstisch zierte, und mir war, als sollte ich es für mich allein erretten; auch war so etwas wie eine vermessene Botschaft voU Trotz und höherer Sendung in mir aufge brochen, als ginge es nämlich hier, bei Gott, um nichts Geringeres als um eine sofortige, höchst unerläßliche Betonung der Majestät alles Geistigen. Und so fischte ich derm nach kurzer Überlegung meinen Lessing aus seiner prunkvollen Umgebung heraus und kehrte damit zufrieden auf meinen Platz zurück, zum Erstaunen, ja zur Verblüffimg aller Lehrer und Kameraden. Nun besaß ich also, was ich wollte, und das Spiel wurde fortgesetzt. Ich spähte imterdessen ein weitig schuldbewußt nach meinem Kon kurrenten aus; dieser tat aber so, als ginge ihn das alles nichts an, er lächelte nur immer mit gleicher Überlegenheit sein Spitzbubenlä cheln wie bisher. Nun, umso besser, dachte ich, besonders nahe geht ihn, so scheint es, der verlorene Lessing nicht. Es ereignete sich aber nun etwas Merkwürdiges: auch der Kamerad gewann plötzlich eine schöne Tombola, ich glaube die vierte oder fünfte. Und ich sehe ihn noch heute, wie er, förmlich im Parade schritt, seines Zieles durchaus sicher, auf den Tisch mit den köstli chen Gaben zumarschierte. Er steuerte geradewegs auf das wertvoll ste noch verbliebene Stück zu, einen in Bronze gegossenen Ulanen, der da in prächtiger Uniform mit vorgehaltener Lanze auf einem wahnsinnig gewordenen Pferdchen um seine künstlerische Berechti gung zu reiten schien. Des Kameraden kluge, treffliche Wahl wurde allseits mit lautem Hallo und Bravo begrüßt, es schien wie ein befreites Aufatmen durch den weihnachtlichen Saal zu gehen, daß sich nämlich wieder einer gefun den hatte, der die Dinge nach ihrem sicheren Werte zu schätzen wuß te. Wir saßen uns dann wieder gegenüber, der Kamerad und ich, er ne ben seinem herrlichen Ulanen, den er bedeutsam vor sich hingestellt hatte, ich mit meinem bescheidenen Lessing, in dem ich hin und wie der gedankenvoll und neugierig blätterte. Des Kameraden überlege nes Lächeln focht mich jetzt nicht weiter an; ich wußte, was ich wissen wollte, der große geistige Augenblick des Abends war doch mein ge wesen! Hätte ich aber geahnt, was mir in dieser Affäre noch bevorstand, ich wäre in meinem Hochgefühl doch etwas weniger zuversichtlich ge wesen. Am nächsten Tag nämlich, da wir Zöglinge ,,Ausgang" hatten, sah ich mit Verwunderung, wie mein Kamerad sich schon frühnachmittags in den Waffemock warf, seinen bronzenen Ulanen imter den Arm packte und zuversichtlich mit ihm in die Stadt zog. Ich selbst blieb an jenem Nachmittage zu Hause. Ich hatte gerade be gonnen, in Lessings kühnen, funkelnden Sinngedichten zu lesen, das ließ mich nicht mehr los. Und ich saß auch noch des Abends da vor, mit brennenden Schläfen, bei der singenden Gaslampe, als mein Freund vergnügt hereinstolzierte, imter dem Arm ein gewaltiges Pa ket, das er lächelnd vor mich hinstellte. Er nestelte gemächlich die Schnüre los, entfaltete den Karton und - es lag vor meinen erstaunten Blicken eine stattliche Reihe köstlich in duftendes Halbfranz gebundener - Bücher! ,,Da schau her, was ein alter Ulane noch alles wert sein kann", lachte der Kamerad und schlug mir wohlwollend auf die Schulter. O Gott, wie wurde mir da! Stück für Stück legte er langsam vor mich hin: Lessings gesammelte Werke in vier Bänden, Shakespeare in acht, Uhland und Wieland in je drei Bänden! Und das alles hatte sich der Schlaukopf für seinen bronzenen Ulanen eingetauscht! Mir wurde bei dieser Erkenntnis merkwürdig schwül zumute. ,,Die Bücher stehen dir natürlich sämtlich zur Verfügung", fuhr der Kamerad mit gönnerhafter Gebärde fort, ,,wir haben wohl beide ge nug daran zu lesen, bis wir alte Generäle sind, meinst du nicht?" Gewiß, ich meinte es, zugleich aber fühlte ich inmitten meiner Zer knirschung so etwas aufsteigen wie eine heiße, zärtliche Liebe zu meinem armen, schmucklosen Lessing, den ich mir so teuer erwor ben hatte, Liebe von jener Art, wie sie etwa eine Mutter empfindet für dasjenige ihrer Kindlein, für das sie die schwersten Opfer gebracht, obleich es das am wenigsten schöne ist. Das ist die Geschichte meines kostbaren Lessings. Ich lernte trotz aller Enttäuschung daraus, daß der Wert der Dinge rticht immer nur von ihrer bloßen Wesenheit bestimmt wird. Oft ergänzt er sich aus dem, was wir aus eigenem hinzuzugeben haben auf dem Wege zu ihrem tieferen Besitz. Aus: Die Reise nach Komakuku, erstmals erschienen 1943.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2