Tag der Begegnung Er hatte sich auf diese Stunde mehr vorbereitet als auf alle Prüfungen bisher. Und nun wartete er im zwölften Stockwerk eines Hochhau ses, in einem Räume, in dem versammelt war, was Buchseiten faßten, indessen draußen, über dem Hochschulviertel mit den neuen, na hezu nüchternen Zweckbauten, ein Himmel sich wölbte, mit Feder wolken, wie aus Tüll gemacht. Er stand vor dem Bild noch, als eine Stimme ihn anrief, und er drehte sich um, zu schnell fast, wie jemand, der alles in die Vorbereitungen einbezogen hatte, nur dies nicht: Daß der Ordinarius, vor den er hatte hintreten wollen, unversehens da sein könnte, ja den ganzen Raum auszufüllen vermöchte, so selbstverständlich, wie er ihm entgegen kam das Stück und das Wort nicht wog in die Begrüßung: ,,Da sind Sie also, Doktor Diehl!" Es war die Entfernung, die zwischen zwei Menschen nicht auszumes sen weil nicht auszurechnen ist, wie übersprungen auf diese Weise, und als sie nun vor das großflächige Fenster traten, vor die Bilder draußen, die neuen und die alten, meinte der Ordinarius, es schreibe ihre Zeichen anders die Zeit, als der Himmel sie schreibe. Und doch glichen die Bewegungen, die vom Menschen ausgelösten und ge steuerten, fast schon einem Fluß. Er zeigte auf die Straßenzüge. ,,Sehen Sie, da fährt das Leben in sechs, sieben Reihen, füllt die Rechtecke zwischen den Ampeln an und verliert kaum die Sekunde, so präzise wirken die Schaltwerke. Ich stehe nicht selten am Fenster hier und beobachte den Fluß da unten, den ferngesteuerten. Er ist schon eine Bekannte. Wie jener, der ihn lenkt, der Mensch, mehr und mehr eine Unbekannte wird. Eine sehr einfache Gleichung, möchte man meinen. Oder nicht, Herr Kollege?" Da sagte der junge Doktor Diehl: ,,Wer Ihre Schriften kennt, Herr Professor, weiß, daß diese Gleichung weder der Lehrerin Ihnen noch der Gelehrte aufgestellt hat." ,,Ach so." ' Sie wandten sich von dem Fenster und schritten in den anderen Raum. Und nachdem sie hier Platz genommen hatten, schwieg der Ordinarius eine Weile, als prüfe er den von Doktor Diehl eingereich ten Lebenslauf noch einmal und die Zeugnisse, die Prädikate, die da auswiesen Wissen und Leistung. Und Fleiß vielleicht. Jetzt blickte er auf. ,,Sie haben sich um die von meinem Institut ausgeschriebene Stelle eines Dozenten beworben, Doktor Diehl. Nach den Zeugnissen zu urteilen, wären Sie durchaus qualifiziert, aber - wer wollte mit Be stimmtheit sagen, ob Sie, wenn Sie vor die Studenten hintreten, auch da sind. Da sind, Doktor Diehl! Diese Qualifikation können weder Infrastrahlen noch elektronische Hirne bestimmen. Deshalb meine Bitte an Sie, Doktor Diehl, eine scheinbar sehr simple Bitte: Erzählen Sie mir etwas aus ihrem Leben, etwas, das Sie - aus begreiflichen Grün den - in Ihrem Lebenslauf ausgelassen haben, ein Erlebnis, Begebnis, Ereignis, mit welchen Vorzeichen auch immer, Sie verstehen. Bitte, nehmen Sie sich ruhig Zeit, ich warte gern. Oder wollen Sie eine Weile allein sein?" Der Befragte öffnete und schloß die Hände. ,,Ein Erlebnis", sagte er wie für sich, ,,ein Begebnis, Ereignis?" Er öffnete die Hände wieder. Und blickte auf sie. Wie auf zwei offene Buchseiten. Und als stände das Erlebnis dort und er brauchte es nur abzulesen, begann er zu erzählen: Daß er im zweiten Semester in die Kanzlei des Rektors gerufen wor den sei. - Da wäre ein Stipendium, habe der Rektor gesagt. Von ei nem, der nicht genannt werden wolle. Nicht jetzt und nicht in Zu kunft. Und er wolle auch nicht unterrichtet werden, wem er zufalle, der Anteil. Und ob er Zinsen abwerfe. Dies sei es, was ihn bewege seit dem Tag damals - vor nun schon acht Sommern. Das Wissen nämlich, daß er immer da sei, der andere. Nicht wie eine Unbekannte in der Gleichung oder ein gesichtsloses Neutrum. - Die Hände des jungen Besuchers hatten sich längst geschlossen wie die Tür hinter ihm, nur der Kanzleibogen mit dem Lebenslauf lag im mer noch offen auf der Tischplatte. Jetzt versah der Ordinarius ihn mit einem Zeichen. Und öffnete die unterste Schublade des Schreibtisches dann. Und entnahm ihr ein Bündel Abschnitte, rechteckig, wie Zahlscheine es sind, nicht größer, nicht kleiner als ein Namensschildchen, auf dem Titel keinen Platz haben. Und da er die Hände um das Bündel fügte, woUte es ihm vor kommen, es seien die Zahlscheine, diese schmalen Rechtecke, lauter Zinsscheine, einzulösen an jedem Tag und zu jeder Stunde. 106
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