Oberösterreich, 30. Jahrgang, Heft 1, 1980

Erfüllung Karel Mihutschka fuhr gerne nach S. Um genau zu sein, Karel Mihutschka wäre seit Jahren gerne nach S. gefahren, aber immer war erst irgendein Hindernis zu überwinden. Die Umstände - oder das Schicksal, wie man es nennen will - waren sehr phantasievoO in der Erfindung solcher Hindernisse. Einmal zum Beispiel war es der Regen. Karel, der leicht in Versuchung geriet, die übrige Umwelt kurzweg zu vergessen, wenn er in seine Gedanken eingesponnen war, hatte die Witterung nicht beachtet und kam, als es schon knapp an der Zeit für die Zugabfahrt war, in einen so schweren Platzregen, daß er einfach umkehren mußte, ob er wollte oder nicht. Noch dazu war nun sein einziger guter Anzug durch die Nässe völlig unbrauchbar geworden. Ein anderes Mal war es eine unaufschiebbare Ausgabe, der er sich nicht entziehen konnte, damit war das Budget erschöpft und die Möglichkeit, nach S. zu fahren, wieder einmal ins Wasser gefallen. Es kam ab und zu auch vor, daß unvermutet Verwandte oder Freunde auftauchten und Karel von seinem Vorhaben abhielten. Vielleicht waren all diese Ereignisse mit daran beteiligt, daß in Karel das Verlangen, nun endlich wirklich einmal nach S. zu kommen, so unerträglich wuchs, daß er sich eines Abends spät aus dem Hause schlich - als ob es etwas zu verbergen gäbe - und so wie er war, in Ar beitskleidung, in den Zug nach S. stieg. Er trug nichts bei sich als eine kleine Aktentasche mit ein wenig Wegzehrung; ein paar Brote und Tee in einer Thermosflasche. Das schien ihm genug zu sein. Der Zug ging kurz nach elf Uhr ab, die Reisezeit würde einige Stun den dauern - so dachte er, da könne er also bis zum frühen Morgen schlafen und käme ziemlich ausgeruht in S. an. Dann hätte er einen vollen Tag - von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, um in der Stadt herumzugehen und sich alles in Ruhe anzuschauen. Er käme dann immer noch rechtzeitig zum nächsten Dienstantritt wieder nach Hau se. Er überlegte also: ja, so ginge es sehr gut. Der freie Tag wäre be stens ausgenützt und vor allem: er könnte S., das er durch Bücher und Bilder ja bereits in- und auswendig kannte, nun auch in Wirk lichkeit durchstreifen. Er sah sich bereits durch die Straßen gehen und endlich ihre ,, wahre Länge und Breite" erkennen und freute sich darauf, die Verhältnisse, die man aus Büchern doch nur einigerma ßen ahnen kann, nun in ihrer ganzen Bedeutung zu erleben und in sich aufzunehmen - um dann wahrscheinlich wieder jahrelang in Bü chern und Bildern herumzublättern und in der Erinnerung weiter zu träumen. Es war kein Mensch in dem Abteil, in dem sich Karel Mihutschka nie dergelassen hatte, und es stieg auch niemand zu. Nachts fahren die Menschen nur, wenn es sein muß. Uneingestandenermaßen hatte Karel sogar auf diesen Umstand gebaut und hatte gehofft, allein blei ben zu können. Es schien ihm unmöglich, Auskunft auf neugierige Fragen zu geben, die sich so gerne in Zugabteile einschleichen: ,,Wo fahren Sie denn hin, fahren Sie weit-kommen Sie aus G. - Nein? Ich hätte gewettet, daß ich Sie da schon gesehen habe ..." und so fort. Immer wieder geht man schließlich ja doch auf irgendeine Äußerung ein, weil es ohnehin schon vorbei ist mit persönlichen Gedanken, wenn einen die wißbegierigen Mienen ständig wie kleine Nadeln an stechen. Da geht man dann halt eine künstliche Gemeinschaft ein und beantwortet Nebensächliches mit ebenso Nebensächlichem: ,,Ja, es ist schrecklich, daß es immerfort regnet, hoffentlich scheint morgen die Sonne, die Ernte versäuft sonst . . ." oder im umgekehr ten Falle: . . Hoffentlich regnet es bald, die Wiesen sind schon ganz staubig, die Städte sind ungesund bei dieser Hitze . . ." Dem komme ich aus, dachte Karel, und zog noch einmal sein Buch von S. aus der Tasche - das hatte er auch eingesteckt - und begann zum letzten Mal darin zu blättern, damit seine Vorstellungen morgen früh frisch und lebendig wären und er nur hinaustreten müßte und al les beschauen und mit Händen begreifen. Als ihn dann die Müdigkeit übermannte, legte er das Buch zur Seite, schob es unter die sorgsam zusammengelegte Jacke, die Tasche stellte er dahinter auf, und dann legte er sich, weil doch niemand da war, der Länge nach hin auf die harte Bank. Das Bündel aus Buch und Jacke er gab einen kleinen Polster für das Haupt. Wie schön - empfand Karel Mihutschka in seinem innersten Gefühl, ich werde morgen in S. herumgehen, und wenn ich dann wieder zu rückfahre, werde ich ein anderer Mensch sein, weil ein jahrelanger Wunsch seine Erfüllung gefunden hat. Ich werde dann nicht mehr nur träumen brauchen, ich werde mir nicht mehr nur vorstellen: so oder so ist es in S., diese oder jene Farbe hegt über den Dächern - nein, ich werde wissen, wieviele Schritte lang eine Straße ist, wie tief ich den Nacken zurückbeugen muß, um die Höhe des Turms auszu messen. Ich werde die Stufen der Stiegen gezählt und die Entfernung der Brücken und Weite der Ufer genau in mir haben. Er schlief ganz fest, als es geschah. Das Unglück kam mit einer sol chen Präzision und Geschwindigkeit, daß es kein Ausweichen mehr gab. Als nach dem Zusammenstoß endlich die Rettungsarbeiten mög lich wurden, konnte Karel Mihutschka nur mehr tot geborgen wer den. Der Arzt, der ihn untersuchte, behauptete, er wäre aus dem Schlaf in den Tod gegangen. Da ihn niemand kannte, durchsuchten sie seine Kleider nach Dokumenten. Es wurden aber keine gefunden, und so brachte man ihn einstweilen auf den Friedhof von S., even tuell sollte er auch dort begraben werden. Ein Mann fand später die Aktentasche. Sie lag in den Trümmern herum und niemand wußte, zu wem sie gehörte. Der Mann durch suchte sie und nahm den Inhalt heraus. Er wunderte sich sehr, denn die Thermosflasche war nicht zerbrochen. Und der Tee war irruner noch heiß.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2