Oberösterreich, 30. Jahrgang, Heft 1, 1980

Das Erlebnis Herbst - lernen, daß die Zeit zu Ende geht. Lernen, daß jeder Tag seinen Abend in die Nacht einmündet. Und dann erst: staunend am Morgen die Vögel hören, die dennoch singen. Geschichte Mit den kleinen Blättern des Frühlings von Neumond an beginnen die Herbstnebel ihre Schatten in die Nacht zu werfen: unmerklich zwar noch, verschwiegen, geheim. Erst in der Stunde des goldnen Zenits treten sie plötzlich hervor - fordernd. Und unabweisbar. Aber nicht ewig. Es gibt auch einen Tod für den Tod. Er trat ganz nahe an das Mädchen heran und sagte: morgen - sie wandte sich, begann die Straße hinabzugehen, dann zu laufen, zu rennen -sie überschlug sich fast, so heftig rannte sie den Weghinun ter, der Frau nach, die da mit einer schweren Tasche sich abplagte und die sie vor einigen Sekunden nur unbewußt neben sich wahrgenom men hatte, als sie noch an der Ecke gestanden war, um auf Sarah zu warten. Als sie die Frau fast erreicht hatte, verlangsamte sie ihr Tempo und begann wieder zu denken. Was war geschehen? Sie versuchte, die Reaktionen der letzten Minute zurückzuspulen, nun, da ihr diese ein fache, abgerackerte, gleichgültige, ungepflegte Frau als die Rettung erschien, als der Anker, an dem sie sich anhalten und der Angst ent kommen konnte, die sie so plötzlich überfallen und zum rasenden Laufen gezwungen hatte. Sie erinnerte sich wieder des Wortes: morgen. Der Mann hatte morgen gesagt, dieser Mann, der jeden Morgen - wie sie nun zu wissen glaubte - an dieser Straßenecke stand, wenn sie hinkam, um hier auf Sarah zu warten. Kannte er sie? Sie kannte ihn nicht. Sie hatte ihn auch vor dem heuti gen Tage niemals bewußt gesehen. Er war bisher wahrscheinlich le diglich Staffage gewesen für diese zwei - drei Minuten des Wartens auf die Freundin, während sie das Schaufenster des Elektrogeschäftes betrachtete - schläfrig noch, wachträumend oder überhaupt ge dankenlos. Sie hätte nicht sagen können, was sich in diesem Schau fenster befand. Sie überlegte nochmals: nein, sie könnte nicht sagen, was sie gesehen hatte, genau so wenig hatte sie jemals den Mann wahrgenommen, der nun im blauen Mantel neben ihr gestan den war, sie anstieß und morgen sagte. Jeanne blickte zurück. Aber es war da nichts mehr, als eine morgend lich trostlose Straße, verschlafen in leichtem Dunst, ein wenig ver wahrlost, weil der Straßenkehrer noch nicht bis hierher gekommen war. Aus dem großen Tor an der rechten Seite trat ein alter Mann und wendete sich nach links in die kleine Trafik. Das war alles; das war die ganze Bewegung. Und dann erschrak sie bis ins Innerste. Denn oben auf der Kuppe der Straße, die sich mit einer scharfen Bie gung dort nach rechts wendete, erschien eine Gestalt: ein Mann in blauem Mantel. Er ging zuerst mit normalen, dann aber mit immer länger und schneller werdenden Schritten den Gehsteig herunter. Jeanne sah dies: erstarrt, gebannt, unfähig, sich wieder umzudrehen und weiterzulaufen - als plötzlich aus einem Haustor Kinder herauskamen, viele Kinder, eine ganze Gruppe, so daß der Mann anzuhalten gezwungen war. In diesem Augenblick überfiel Jeanne auch das Geräusch: das Plappern der Kinder, der Singsang, den zwanzig oder mehr durcheinanderre dende Stimmen verursachen. Das weckte sie aus der Erstarrung. Mit einem Ruck drehte sie sich um und nahm ihren Weg weiter, kam an die nächste Straßenecke und stieß fast zusammen mit ihrer Freun din Sarah, die sich verspätet hatte. Sie blickte nicht mehr zurück, sondern fand sich im Nu eingesponnen in die Gespräche von Schule und allem, was so dazugehört, so daß sie ihr Erlebnis völlig vergaß. Es war gänzlich von ihr abgefallen. Am nächsten Tage ergab es sich, daß Jeanne, ohne darüber nachzu denken, einen anderen Weg einschlug. Sie ging ruhig dahin, traf sich pünktlich mit Sarah und dachte nicht im mindesten mehr an den ge strigen Morgen.

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