Türme tragen den Himmel aufsitzen! Ich locke ihn dann noch einmal! Und bitte . . . bitte, Suzanne, nicht mehr schreien! Rühr dich nicht, jetzt sitzt er auf!" Papillon! Armer erschrockener Papillon! Suzanne hat es nicht böse gemeint. Ruh dich aus . . . dann komm noch einmal herauf . . . Su zanne wird nicht mehr schreien ... und ich bleibe hier, warte auf dich, solange du willst ... da ist meine Hand . . . oh, hebst du schon wieder die Flügel . . . Gottes Hand, ja, flieg ab, flieg . . . Aber im selben Augenblick mußte nun Francois aufschreien; ,,Su zanne! Was tust du denn! Suzanne! Nicht! Ich komme hinunter!" Es war schon zu spät. Als Suzanne vor Francois die hohle Hand öffne te, zitterte der Körper des Schmetterlings noch leise, aber die Flügel waren zerdrückt, und der zarte Farbstaub bildete eine häßliche Schmiere. ,,Da", sagte Suzanne, und sie weinte nicht mehr und war nicht mehr starr, sie hatte ihre Lebendigkeit wiedergewonnen, ,,da hast du deine Gotteshand! Des Teufels Hand war es, Francois! Erst schöner, viel schöner als dein Zitronenfalter, aber jetzt, schau meine Finger an, und . . . und du wärest gestorben! - Teufelshand!" wandte sie sich dann an den Schmetterling, ,,du Teufelshand!" Sie preßte ihre kleine Faust zusammen und zerdrückte auch den Körper des Tierchens. Vermutlich wäre es gleichgültig gewesen, wenn die Trauergäste von Mme. Michelets Begräbnis eine Viertelstunde oder halbe Stunde spä ter zurückgekommen wären, denn es darf nicht angenommen wer den, daß Suzanne auch weiterhin geschwiegen hätte. Tatsächlich fanden aber die Mutter und Mme. Lecoq die Kinder noch im Vorgärtchen, und Suzanne wischte eben die beschmutzte Hand an den Blät tern rein. Manches, was sie daraufhin erzählte, verstanden die beiden Frauen vielleicht nicht aufs erste, wie etwa, daß es wohl Mme. Michelet im Himmel gewesen sei, die sie das Pfauenauge plötzlich als des Teufels Hand erkennen habe lassen. Eines aber begriffen sie gewiß, oder zumindest die Mutter begriff es, daß es nicht immer Lüge oder bloßes Spiel der Phantasie sein müsse, wenn ein Kind einmal von Wunderbarem oder gar von einem wahrhaftigen Wunder berichtet. Das hat zunächst rüchts zu sagen, wo die Landschaft liegt. Wir rückten am Abend, schon ums Dunkelwerden, in die kleine Stadt ein und bezogen das Haus. Der Krieg war hier mit weiten Schritten dahingegangen, hatte kaum etwas versehrt, und wir sollten nach an strengenden Tagen der Ruhe pflegen. Wir freuten uns nicht nur des erhaltenen Lebens, der wiedergewonnenen Möglichkeit zur Säube rung von Körper und Kleidung, wir gedachten auch einen Hauch, vielleicht einen letzten, jener biedermeierlichen Behäbigkeit, ja Rück ständigkeit zu spüren, der französischen Provinzorten eigen war und sprichwörtlich geworden ist. Als jedoch der neue Tag anbrach, was galt da noch Raum und Gerät des fremden Hauses, was galt die folgende Zeit das alte Tor, das träge hinziehende, strauchüberwucherte Flüßchen, kaum, daß der Haus wirt noch Beachtung fand, erschien er, nach seinen Schränken und Truhen zu sehen, ob sie noch versperrt wären. Hier, im klaren Lichte des Tages, galt nur noch eines: Entgegengesetztes aller spießbürgerli chen Enge und Beschränktheit, Verneinung jeder selbstgefälligen Zu friedenheit, Abwehr satter Müde und Erschlaffung, galt nur noch das Denkmal hoher Kunst, das Wunder aus Stein, die Kathedrale von Chartres. Johann, der taube Meister, baute sie, in jenen Jahren, die zu allererst in Frankreich Wucht als drückend, Geschlossenheit als Fessel, Si cherheit als Last empfanden, die Tore sich also weiteten, die Wände durchbrochen und die Säulen gebündelt wurden, Statuen an die Ein gänge und in die Nischen traten und allüberall Zierwerk sproß, kün dend von der größeren Leichtigkeit des Lebens. Dreißig Jahre, und dies bedeutet wohl ein Leben lang, baute er, und ist das, was erhalten blieb von seinem Werk, auch nur steinernes Zeugnis seines Ringens um die neue Form, mögen die alten, nun als dunkel geltenden Ele mente und Symbole dort und hier noch unbewältigt erscheinen, nie mand könnte ihm den Titel streitig machen, in der Unruhe seines Herzens, dem Planen seines Geistes, der Schöpfung der Hände den Anfang einer Entwicklung gesetzt zu haben, an deren Ende die Ka thedrale von Reims steht, die somit die hohe Zeit der französischen Gotik bedeutete. Der Brand zerstörte, was der taube Meister geschaffen, einzig die Westfassade zwischen den Türmen widerstand, mit ihr die Königli che Pforte, die Rose darüber, das höherstehende, säulendurchsetzte, statuenbestandene Mauerwerk: seltene, gnädige Fügung, daß in der Vernichtung der edelste Teil eines Ganzen bewahrt bleibt. Der andere Meister kam. Unbekannt nach Namen und Herkunft, war er dem alten ebenbürtig und nahm dessen Testament in seinen Plan. Nur jung mußte er gewesen sein, jung und stark und gläubig, mit Leib und Seele dem Neuen ergeben, dem Licht, der Unbeschwert heit, der Aufgeschlossenheit! So führte er den Norden wie den Süden der Kirche und den Chor in reinem Geiste wieder auf. Er gab ihnen die großen Fenster, daß an Stelle des kahlen Mauerwerks das bemalte Glas treten konnte, die Historie in Gelb und Rot und dem vielgelieb ten Blau, die heitere Schöpfung altüberlieferter, gepflegter Kunst, er baute das regelmäßige Gefüge der Strebepfeiler und Strebebogen, wandelte das Notwendige zum scheinbar Beabsichtigten, er fügte dem einen Portale die beiden neuen hinzu und vollendete gerade in ih nen, was der alte Meister nur anzudeuten gewagt hatte: er wölbte die Bogen höher, dem Lichte zu, er zog aus dieser Sehnsucht die Bogenhälften zur klaren Spitze, er löste die Standbilder aus ihrer Befangen heit, aus dem Banne der Säulen, schenkte ihnen die behaglichere FüUe des Körpers, die lebendigere Bewegung, das natürlichere Maß, ließ sie hervortreten zum selbständigen Sein, schuf in Architektur und Plastik also das erste Meisterwerk vollendeter Gotik. So stand es vor uns: auf der kleinen Höhe herausgehoben aus dem Gewirr der nichtssagenden Häuser und belanglosen Gassen, in der Sonne leuchtend, prunkend mit der Helligkeit seines Steins, hoch, erhaben, schwerelos scheinbar in der heiteren Bewegtheit der Zier; im Regen sich dunkel färbend, der Erde zugehörig, leichten Dunst at-
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