Oberösterreich, 29. Jahrgang, Heft 3, 1979

sich Mme. Michelet, einfacher und deutlicher zu werden: der Schmetterling, das sei Gottes Hand gewesen, sie habe Francois zur Erde getragen. ,,Hast du ihn nachher, auf dem Boden, noch einmal gesehen?" fragte sie. ,,Nein, Madame Michelet." „Siehst du? Unten hast du Gottes Hand nicht mehr gebraucht. Da war sie schon wieder wo anders. Vielleicht hat sie als freundliches Fräulein einem ganz armen Mann eine Münze geschenkt. Oder sie hat ein Kind, das in die Seine gefallen ist, wieder herausgezogen; nicht in Gestalt eines Schmetterlings oder eines Fräuleins, sondern in der eines Matrosen." ,,Gibt es das wirklich, Madame Michelet?" fragte Suzanne. ,,Daß Gottes Hand jetzt ein Schmetterling ist und dann ..." ,,Natürlich gibt es das. Gott ist allmächtig. Er kann alles." Und dann sagte Mme. Michelet, daß man allerdings vorsichtig sein müsse, denn es gebe neben Gottes auch des Teufels Hand. Und diese scheine manchmal weicher, gütiger, schöner als jene. Aber sie verderbe den Menschen. ,,Und die kann sich auch verwandeln?" fragte Francois. ,,Gewiß. Einmal hat sie sich zum Beispiel in einen Pudel verwandelt." Darüber konnten die Kinder nun sogar ein wenig lachen. Dann baten sie aber Mmme. Michelet doch, selber zu Frau Godard zu gehen und ihr das mit,Gottes Hand' und des ,Teufels Hand' zu erklären; es sei schwer, sie machten es gewiß falsch, und überhaupt würde die Mut ter es nur ihr glauben. Mme. Michelet wollte das Erbetene auch tun, allerdings noch nicht am folgenden Abend; ihre Familie feiere in St. Denis draußen ein Fest, und dabei dürfe die Älteste nicht fehlen. ,,Aber morgen, Francois", sagte sie,,,morgen komme ich bestimmt, und bis dorthin wirst du es mit deiner Mutter noch ertragen. Be stimmt wirst du das!" In der gleichen Nacht freilich, gerade während des Familienfestes, starb Mme. Michelet. Sie hatte einen milden und raschen Tod, und er nahm auch die letzte Unruhe von ihr, ehe die Verwandtschaft erken nen konnte, woher sie kam: In der Stadt, in Paris, seien die beiden Kinder, und sie müsse noch . . . Am folgenden Vormittag, als der Tod Mme. Michelets sich bereits herumgesprochen hatte, wartete Suzanne zur gewohnten Stunde vergeblich auf Francois. Auch am Nachmittag kam er nicht, und ihr eigener zweimaliger Versuch, ihn oder seine Mutter in der Wohnung zu finden, schlug fehl. Erst am nächsten Tag erschien er wieder, ziem lich früh, er trug eine Pappschachtel unter dem Arm. ,,Madame Michelet . . .", sagte Suzanne. ,,Bist du deswegen nicht gekommen?" Francois nickte. ,,lch habe nicht gewußt, was ich tun soll", antwortete er. ,,Aber jetzt weiß ich es." ,,Hat es mit der Schachtel zu tun?" ,Ja." ,,Und was?" Das verriet Francois zunächst nicht. Er sagte nur, daß sie einen Schmetterling fangen und in der Schachtel aufbewahren wollten; so bald sie ihn hätten, würde er Suzanne aUes weitere erklären. Nun, die beiden strichen weit herum, ohne einen Schmetterling auch nur zu sehen. Erst im Jardin du Luxembourg hatten sie Glück, dop peltes Glück dafür: sie fingen keinen Zitronen-, sondern einen viel schöneren Falter, er war samtbraun in verschiedenen Schattierungen und hatte vier dunkelblaue Augen darin. Er blieb auch ganz unver sehrt. Und jetzt, auf einer abgelegenen Bank, weihte Francois die Freundin in seinen Plan ein: wenn es nun, nach dem Tode Mme. Mi chelets, niemand mehr gebe, der die Mutter von der Wahrheit über zeugen könne, dann müsse er, Francois, den Fenstersturz wiederho len! Er werde es genau, ganz genau so machen wie das erstemal, Su zanne werde ihm dabei helfen und Zeuge sein, und nachher könne sie zu Frau Godard gehen und ihr sagen, so und so sei es geweHier unterbrach das Mädchen Francois und weigerte sich strikt, so etwas zuzulassen. ,,Noch einmal aus dem Fenster fallen?" fragte sie. ,,Nem, Francois! Das darfst du nicht! Nie darfst du das! Und wenn du es noch einmal sagst, laufe ich zu deiner Mutter und erzähle es ihr!" Aber Francois brachte sie zum Schweigen. ,,Weil du mir auch nicht glaubst!" erwiderte er. ,,Weil du mich angelogen hast!" Daraufhin begann Suzanne zu weinen und wandte zumindest vorläufig nichts mehr ein, als Francois sie weiterhin zu bereden versuchte: wenn Got tes Hand ihn einmal getragen habe, sagte er, wo gar nichts gewesen sei, nur ein bißchen schauen, dann werde sie ihn diesesmal schon überhaupt nicht fallen lassen. ,,Und Madame Michelet, Suzanne, die ist schon im Himmel, die hilft auch! Es geschieht mir nichts! Es ge schieht mir wirklich nichts!" Während Suzanne noch immer schwieg und nur ab und zu die Tränen von den Wangen wischte, sagte er ihr auch, wie sie es machen würden: er stünde wieder auf dem Stuhl am Fenster und nun müßte Suzanne im Vorgarten unten den Schmetter ling aus der Schachtel lassen; er begänne ihn zu locken wie das erste mal . . . Hier empörte sich das Mädchen neuerdings und stärker als vorher, aber es war auch diesmal vergeblich. Francois sagte nämlich, er könne nicht mehr leben, wenn es zwischen ihm und der Mutter bleibe, wie es derzeit sei. Er müßte also fortgehen, ginge aber nicht sehr weit, nur an die Seine, und dort spränge er hinein. ,,Wo kein Matrose ist und kein anderer Mensch, Suzanne", sagte er. ,,Und ich kann noch nicht schwämmen. Wenn du es aber Mutter oder deinen Eltern erzählst, gehe ich sofort!" Da ergab sich denn das Mädchen endgültig, und Francois wnißte auch schon den Zeitpunkt für den zweiten Fenstersturz: um drei Uhr nachmittag; Mme. Michelet werde zu dieser Stunde begraben, alle Erwachsenen gingen mit, und die Straße sei leer. So war es denn auch in Wirklichkeit. Suzanne kam pünktlich zum Stundenschlag, Francois erwartete sie am Gartentor. Er gab ihr die Schachtel mit dem Schmetterling, die er bisher wie einen Schatz ge hütet hatte, und das Mädchen sollte den Deckel öffnen, sobald er, Francois, oben im Fenster nicht mehr summe, sondern zu singen be ginne; das erstemal sei der Schmetterling auch genau mit dem Singen gekommen. Suzanne nickte nur, und sie hatte ein ganz starres Ge sicht. Nachher lief Francois in die Wohnung zurück, er setzte sich an den Tisch und blätterte in einem Bilderbuch, und vom Tisch ging er lang sam zum Fenster. Hier sah er zum Himmel hinauf- er strahlte in mil dem, beinahe goldenem Licht -, ach, die Welt war so schön und das Leben so gut, so schön und so gut, daß er ein Lied summen muß te .. . Sur le pont d'Avignon on y danse, on y danse . . . . . . aber nein, warum nur summen, singen mußte er es, daß die Worte zu hören waren und Suzanne sie verstehen konnte . . . Sur le pont d'Avignon on y danse, on y danse ... . . . oh, saß da nicht ein Schmetterling unten in einer offenen Schach tel? Ein schöner Schmetterling? Langsam fing er an spazierenzuge hen. Und jetzt... ja, Papillon, dazu hast du deine Flügel! Schöner dunkler Papillon, sieh dir nur alles an! Das ist Jasmin, wie im Jardin, aber komm auch weiter herauf, an die Wand, in die Sonne ... ja, komm . . . und jetzt hole ich den Stuhl! Bist du noch da, Schmetterling? Ja! Schöner dunkler Papillon mit den blauen Augen, du bist im ersten Stock . . . aber da ist auch noch Schatten . . . komm höher . . . ja . . . komm, Gottes Hand, komm . . . komm . . . ,,Nicht, Francois! Hör auf!" „Suzanne! Warum hast du geschrien! Jetzt ist er erschrocken und weiß nicht, was er tun soll! Er kommt wieder zu dir hinunter. Laß ihn

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