Die beiden Hände keine gute Note verdienen habe wollen, sondern daß er eine Bitte sei, gut zu ihr zu sein. Sie könne es nicht anders sagen, wolle es nur da durch ausdrücken, daß sie ihnen mitteile, um wieviel härter ihr Los als das aller ihrer Mitschüler und auch des Lehrers sei. „Elfriede", sagte der Lehrer und ging auf das Kind zu, er nahm dessen Gesicht zwischen seine Hände und hob es ein wenig hoch, ,,Elfriede, ver zeih uns allen mitsammen. Auch mir. Willst du?" Aber da entwand das Kind ihm schon sein Gesicht und legte es auf die Bank, und ein schütterndes Weinen durchlief seinen Körper. Der Lehrer ließ es gewähren, ja, er mußte sich selber zum Fenster wenden und hinaussehen, eine ungebührlich lange Zeit. Aber es fiel kein Blei stift in seinem Rücken und scharrte kein Fuß, es war, als wäre die Klasse eingeschlafen oder lauschte einem fernen Gesang. Als der achtjährige Francois Godard aus dem zweiten Stockwerk ei nes Pariser Hauses in das Vorgärtchen gestürzt war, ohne sich über haupt nur wehzutun, ging dies durch zahlreiche französische Zei tungen. Eine Anzahl davon berichtete sogar Einzelheiten dieses ge wiß nicht leicht erklärbaren Vorfalls. Francois, allein in der Wohnung, war am offenen Fenster gestanden. Plötzlich hatte er - und dies mit ten in der Großstadt - über den Sträuchern des Vorgärtchens einen Zitronenfalter gesehen. Der Schmetterling flatterte gegen die Haus wand zu, und nun mußte Francois einen Stuhl holen und sich darauf stellen, um ihn noch weiter beobachten zu können. Als der Falter hö her und über das erste Stockwerk hinausstieg, streckte Francois ihm die Hand entgegen und bat ihn, sich daraufzusetzen. Der Schmetter ling wahrhaftig noch ein Stückchen höher und ein weiteres Stück chen, Francois einige Zentimeter tiefer und noch einen oder zwei . . . dabei war es geschehen. So weit also die Zeitungen. Was sich aber an die nackte Tatsache die ses Fenstersturzes ohne geringste Verletzung anschloß, berichteten sie nicht mehr. Es hätte sich kaum in wenige Zeilen drängen lassen, und ein Tagesjournalist hat überhaupt nicht die Möglichkeit, einem Geschehen nachzuspüren, das sich langsam entwickelt. Francois nämlich fand unter den Erwachsenen seines Lebenskreises nicht einen Menschen, der ihm geglaubt hätte. Madame Lecoq zum Beispiel, die Hausbesorgerin, nannte seine Erzählung sofort eine Lüge, nur erfunden, um die abgebrochenen Jasminzweige zu recht fertigen. Francois' Mutter, die Witwe eines gefallenen Polizeihaupt manns, drückte dies nicht so hart aus, aber im wesentlichen war sie derselben Meinung wie Mme. Lecoq. Und als ihr ob der unablässigen Beteuerung des Kindes, es spreche die Wahrheit und habe die Mutter noch nie angelogen, doch Zweifel kamen, wischte diese der Hausarzt Dr. Laroche weg: aus solcher Höhe zu stürzen, ohne daß dies letal ausginge, sei unmöglich; Mme. Godard möge den Vorfall aber nicht tragisch nehmen, Kinder entwickelten manchmal eine ungewöhnli che Phantasie, hielten Träume für wahr und Tatsachen für Träume. Auf die Frage der Mutter, wie sie sich verhalten sollte, wenn Francois neuerlich fordere, daß sie ihm glaube - er tue es Tag für Tag-, antwor tete er, sie weiche am besten aus; sie möge vorschützen, der Gedanke an die Folgen des Fenstersturzes, die eintreten hätten können, dieser Gedanke sei ihr so furchtbar, daß sie nicht mehr erinnert werden wol le; über kurz oder lang gebe sich alles wieder von selbst. Es gab sich aber nicht von selbst. Davon erfuhr allerdings zunächst Suzanne, die gleichaltrige Gespielin Francois'. Sie war der einzige Mensch, der ohne jeden Zweifel glaubte, was sich zugetragen hatte. Ihr gestand Francois deshalb auch, daß er irgendetwas . . . irgendet was tun werde, wenn die Mutter ihn weiterhin für einen Lügner hal te. Er sprach wiederholt davon, und eines Tages traf er den Kern der Sache: gerade, weil er die Wahrheit sage, werde er der Lüge geziehen; spräche er die Unwahrheit, dann gewänne er das bisherige Vertrauen der Mutter wieder; sie aber habe immer die Lüge als das Böseste in der Welt bezeichnet. Vielleicht . . . vielleicht gehe er fort von ihr, ir gendwohin, wo sie ihn nicht mehr finden könne. Suzanne nahm auch diese Worte ganz ernst und suchte nach einem Ausweg. Sie war ein lebendiges und kluges Mädchen und hatte bald gefunden: Mme. Michelet, die Blumenverkäuferin, werde ihnen hel fen. Sie sei sehr alt, vielleicht schon hundert Jahre, und sie werde ih nen sagen können, wie es möglich sei, aus dem zweiten Stock zu fal len, ohne . . . ohne tot zu sein; und dann würde sie es der Mutter Francois' genauso erklären. Mme. Michelet war tatsächlich schon an die achtzig. Sie kannte die Kinder gut, und als sie erst begriffen hatte, daß es sich um Unge wöhnliches handle, mit dem sie gekommen seien, schloß sie den Blumenladen und führte Francois und Suzanne zu ihrem Ruheplatz, einer Bank im Schatten des nahen Kirchleins St. Medard. Sie wußte auch sofort eine Erklärung: ein Wunder sei es eben gewesen. Die Kin der konnten allerdings nicht viel anfangen mit dem Wort, so bemühte
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