Oberösterreich, 29. Jahrgang, Heft 3, 1979

Das Flüchtlingsmädchen Es geschah einmal, daß einem Lehrer, der vor kurzem erst die Bil dungsanstalt verlassen hatte, die Führung einer Klasse zehn- und elf jähriger Knaben und Mädchen anvertraut wurde. Als er zum ersten mal vor sie hintrat- es war schon in der zweiten Hälfte des Schuljahrs -, erschien ihm die Klasse als ein einheitlicher Körper, er atmet und lebt, und es gibt keine Stelle, die da fremd und tot wäre. In der zwei ten und dritten Woche jedoch begann er die feinen Risse zu erkennen, die wie alles Lebende auch dieses Wesen durchzogen. Es waren Un terschiede gesellschaftlicher Art, die da und dort eine Grenze zeich neten, Schüler von höherem geistigen Rang schlössen sich manchmal zu einer Gruppe zusammen, der tiefste Spalt jedoch schien dem Leh rer zwischen den Kindern der ortsansässigen Bevölkerung und einem Flüchtlingsmädchen zu klaffen, das aus einem Gemeinschaftslager siebenbürgischer Familien zur Schule kam. Nicht, daß er jeden Au genblick und in auffälliger Form sich gezeigt hätte, aber es gab eine Äußerung, die gegenseitige Mißachtung verriet, eine Gebärde, die nicht vereinzelt, sondern als Ausdruck einer Sinnesart gewertet wer den mußte, ein Wort, das beinahe schon ein Schimpf war. Der Lehrer, von Natur aus feinfühlig und gütig, bemühte sich, den Spalt zu überbrücken. Er versuchte es mit offenem Zuspruch und heimlicher Einflußnahme, er gab selber Beispiel und tat so alles, was möglich war. Fragte er sich dann nach einer gewissen Zeit und in ei ner der Stunden, die dem Nachbedenken der Schularbeit gewidmet waren, wie weit er mit seinem Bemühen gekommen sei, dann glaubte er zufrieden sein zu dürfen. Ein letzter Rest des Zwiespalts freilich, das verbarg er sich nicht, ein haardünner Riß, wenn so gesagt werden darf, blieb auch weiterhin. In guten Stunden kehrte er sich nicht mehr daran, wollte es der Zeit überlassen, ihn endgültig zu schließen, in schlechten grübelte er aber doch darüber und begann, da er bei sich selbst keine und bei der Klasse kaum noch eine Schuld zu finden vermochte, sie bei dem Flüchtlingsmädchen zu suchen. Sie hieß Elfriede Roth und war klein und dunkel und ein äußerst verschlossenes Kind. Es kam fast niemals vor, daß sie aufzeigte, mochte auch die übrige Klasse in einem Sturm des Eifers sein. Wurde sie gerufen, erhob sie sich linkisch und wußte oftmals keine Antwort. In den Pausen blieb sie auf ihrem Platze sitzen und beteiligte sich nicht an den Gesprächen und Spielen der Mitschü ler. ,,Elfriede", hatte der Lehrer anfänglich gesagt, ,,auch du mußt den Anschluß suchen." Er hatte ihr noch öfter freundlich zugesprochen, aber es war dadurch nicht anders geworden. Das Mädchen hatte ihn kaum angesehen, war dann wohl noch tiefer in sich hineingekrochen oder hatte gar geweint. So begann sich allmählich eine Entwicklung anzubahnen, die der Lehrer in seiner Unerfahrenheit vielleicht nicht erkannte, die er möglicherweise aber auch ob seiner verletzten Eitel keit - und war es nur Berufseitelkeit - nicht unterband. Die Klasse wandte sich von neuem gegen den Flüchtling, nun aber um seinet-, des Lehrers, -willen, und sie schloß ihn selber mit ein. Der Lehrer kam dadurch in einen immer größeren Gegensatz zu dem Mädchen, ja er begann ihm schließlich ernsthaft zu grollen. Den äußeren Ausdruck fand dies, als er es einmal heftig anrief- ,,für dich werden auch keine Extrawürste gebraten, Roth" - und zum zweiten anläßlich eines Dieb stahls in der Klasse. Er untersuchte zwar jeden Schüler, aber er ver weilte bei dem Flüchtlingsmädchen länger und verdächtigte - im stil len zwar, aber doch - allein dieses. Beides hieß aber wohl, daß auch er von dem Kind sich abgewandt hatte und es nun völlig alleinstand. Bald nach jenen Vorfällen und jenem Abschluß einer Entwicklung gab der Lehrer eine Prüfungsarbeit, in der die Schüler ihre Kenntnis eines gewissen Teiles der Sprachlehre, der Zeitformen nämlich, er weisen sollten. Sie mußten Sätze schreiben, die besagten, was sie einmal besessen hätten, was eben jetzt in ihrem Besitze sei und was sie einmal haben würden. Die Kinder waren gut vorbereitet und ar beiteten eifrig, einzig Elfriede Roth machte wieder eine Ausnahme. Sie schrieb einen Satz und saß dann stiU, und als sie neuerlich zur Fe der griff, war eine lange Zeit vergangen. Sie weinte auch. Der Lehrer, der vor der Klasse stand und auf Ordnung achtete, bemerkte es, aber er mengte sich nicht ein. Mochte das Mädchen sehen, wo es blieb. Zum Schluß sammelte er die Blätter ein und nahm sie mit auf sein Zimmer, gelegentlich wollte er sie überprüfen. Es trug sich nun in jenen Tagen zu, daß die Familie des Lehrers, die jenseits des Berges ein Anwesen besaß, ein Fest feierte. Die zwei ein gerückten Söhne waren aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, und Vater und Mutter hatten auch beide Töchter gebeten, mit ihren Männern zu kommen. Fröhliches Gehaben erfüllte das ganze Haus, Wohlgeruch der Speisen und Getränke durchzog es. Gegen Abend begannen die drei Brüder zu singen, wie sie es zu ihrer und Bekannter Freude schon vor dem Kriege geübt hatten. Sie traten auch vor die Haustür hinaus und sangen in die Dämmerung hinein, und überall, wo sie gehört wurden, freuten sich die Menschen und sagten: ,,Die Heißenbuben singen wieder. Da muß es doch endlich Friede wer den." Dies geschah an einem Sonntag, und gegen Mitternacht mußte der Lehrer, der jüngste der Brüder, wieder in sein Dorf zurückkehren. Das machte keine Schwierigkeit, der Mond schien hell, der Weg war gefahrlos und mochte zwei Stunden dauern. Noch im Aufwärtsstei gen begleitete den Lehrer der Gesang der Brüder, und als er ihn nicht mehr vernehmen konnte, weil die Höhe dazwischengetreten war, breitete sich dafür in dem milden Licht Berg und Tal vor ihm aus, Wald, Wiese und Feld, der ferne See, die ganze Heimat. Da über mannte ihn ein heißes Glücksgefühl, er breitete die Arme aus und sang für sich allein das Lob der Schöpfung. In seiner Stube mochte er noch nicht Schlafengehen. Er tat dieses und dann jenes und griff schließlich um die Blätter, welche die Kinder be schrieben hatten. Ei, eine Puppe hatten sie einmal besessen oder ei nen Kaspar, nannten jetzt einen Schlitten ihr eigen, Skier, neue Schuhe, und würden einmal schöne Kleider, ein Haus, ein Pferd be sitzen. Elfriede Roth aber hatte anderes geschrieben: ,,Wir werden wieder einmal eine Heimat haben. Vater hat einrücken müssen, dann haben wir ihn nicht mehr gesehen. Meine kleine Schwester Barbile ist auf der Flucht erfroren. Meinen Bruder Norbert und die ältere Schwester Gitta haben die fremden Soldaten zur Arbeit geholt, sie sind nicht mehr heimgekommen. Jetzt sind Mutter und ich ganz allein, und Mutter weint immer. Wir werden nie mehr alle bei sammen sein." Der Lehrer las die Arbeit ein- und ein zweitesmal, er benotete sie nicht und legte sie zur Seite. Er hätte ein ,,nicht genügend" daraufschrei ben müssen, aber nicht nur, daß er dies versäumte, er war auch bei der Durchsicht der folgenden Arbeiten unaufmerksam. Als er endlich fertig war, wies der Zeiger auf drei Uhr morgens, selbst zu dieser spä ten Stunde jedoch ging er nicht schlafen, sondern schritt wie ruhelos weiterhin in seiner Stube auf und ab. Am nächsten Tag begann er den Unterricht mit der Besprechung der Prüfungsarbeit. Er lobte die Kinder ob ihres Fleißes und teilte ihnen die Noten mit, die sie erhalten hatten. Als er zum Blatt Elfriede Roths kam - es war das letzte, das Mädchen war in der Bank immer kleiner und die Blicke der Mitschüler nach ihm immer häufiger geworden -, sagte er, daß es die beste Arbeit sei. Er las Satz um Satz vor, sah, wie die Augen der Kinder sich allmählich auf die Pulte, auf den Boden senkten, und sagte dann, daß die Arbeit eigentlich keine Sprachar beit, sondern ein Aufsatz sei. Als solcher schildere er allein in sechs Sätzen das grausame Schicksal einer Familie in einer gnadenlosen Zeit, er nenne mit einem Satz die ganze Unwiederbringlichkeit des Verlustes, den die Mitschülerin erlitten habe, mit einem anderen alle ihre Hoffnung, auf Grund derer sie und ihre Mutter noch leben könn ten. So sei die Niederschrift in aller Bitterkeit ein Meisterstück, soüten auch erster und letzter Satz ihre Plätze tauschen. Der Lehrer schwieg einen Augenblick, er sagte dann in die atemlose Stille hinein, die eingekehrt war, daß Elfriede aber mit dem Aufsatz

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2