Oberösterreich, 29. Jahrgang, Heft 1, 1979

Von notwendiger Liebe Zum zweiten Male sieht sich unsere Generation in der Lage, die ein verlorener Krieg mit daraus folgendem Staatszusammenbruch schafft. Zum zweiten Male erfahren wir, daß weltpolitische Verände rungen von solchem Ausmaß ihre Wirkungen auch auf den Bereich des seelischen und geistigen Gleichgewichts der menschlichen Ge sellschaft, wie des Individuums ausdehnen, und daß durch die not wendige Umwertung ethischer Normen eine tiefgreifende innere Un sicherheit ausgelöst wird. Aus dieser Verfassung läßt sich die Tatsa che psychologisch ableiten und verstehen, daß in unmittelbaren Nachkriegszeiten die Menschen zu prophetisch gläubigen oder trost los nihilistischen Extremen neigen, die sich in idealistischen Mani festationen, in leidenschaftlicher Anklage der Vergangenheit und Umwelt oder in Selbstbeschuldigung und seelischem Flagellantismus äußern. Und hier, in der Art der menschlichen Reaktion auf den Zustand, in dem sich das gesamte Leben am Ende eines furchtbaren Krieges fin det, deutet sich bereits heute ein Unterschied an zwischen 1918 und 1945. Damals WTorde viel geredet und geschrieben. Pathetisches über Gott, Gläubiges über den Menschen und seinen unveräußerlichen Wert. Schäumenden Mundes oder doch wenigstens auf- und über brausenden Geistes wurden Prophetien und Konfessionen verkün det, wurde ethische Magie betrieben. Die Grundtonart des vielfälti gen Chores hieß Liebe: Menschenliebe, Weltliebe, Gottliebe; und der Glaubenssatz ,,Der Mensch ist gut" (mehr als ein charakteristischer Buchtitel Leonhard Franks aus dem Jahre 1919) einte die Überzahl der Stimmen. Aber es zeigte sich bald, daß die hohen Worte Literatur blieben und nicht Vorboten eines tätigen Idealismus waren; ja, daß selbst die Literatur im allgemeinen nicht, wie sie vorgab, mit reinem Flerzblut geschrieben war, sondern mit Tinte. Geschäftemacher und Schieber erkannten im Golddollar das beständige Maß für eine Welt, die zunehmend in ihre Hände glitt, bis sie unter ihren Händen zerfiel. Die großen Worte der Apostel verhallten, der ,, Bruder Mensch" ge wann wieder kühleren Abstand zu seinen Zeitgenossen und eine Li teratur der Enttäuschung begann sich auszubreiten. Dann kam die ,,historische" Zeit und bewies den Entrauschten, daß sie recht behiel ten mit ihrer Ernüchterung, daß der Mensch (falls es ihn geben sollte) durchaus nicht unbedingt gut sei, sondern daß er vor wirklicher Ver antwortung meistens versage, und zwar nicht so sehr als wortge wandtes Individuum, als im schlichtesten Sinne tätiger Nächsten liebe. Ein zweiter, noch furchtbarerer Krieg erbrachte die Probe aufs Exempel und zeigte Tatbestände ausgedehnter Barbarei, die eine Wieder holung des .Nachkriegstaumels unter der Devise ,,Der Mensch ist gut", einer fiktiven Brüderlichkeit aller Lebenden, im Keime ersticken und als Phrase entlarven müßten. Und das ist recht, denn Phrasen führen zu nichts (es sei denn zu Verblendung und Tod). Wir haben es erfahren und - schweigen . . . Das Nachkriegsschweigen von 1945 mag realistischer und ehrlicher sein als die aufgestellten Hymnen und ethischen Liebeserklärungen von 1919, aber es ist nicht weniger ungesund und beängstigend. Wie stark wäre zu wünschen, daß es nicht völlige Gleichgültigkeit, stu pide Resignation der DesUlusionierten bedeutet, sondern besinnliche Stille vor Tagesanbruch, heilige Nüchternheit eines reinen Morgens. Doch vom Künftigen wissen wir nichts! - Wohl dünkte es hoch an der Zeit, das Verbindende zwischen den Menschen zu erkennen und geschwisterlich zu erstreben; allzu ge fährlich hingegen, den Glauben an das Gute im Menschen als Grund irrtum endgültig fallenzulassen und jener Verführung nachzuhän gen, die da behauptet: ,,Homo homini lupus!" Zu welcher Gesell schaft, zu welcher entsetzlichen Anarchie innerhalb der Gemein schaft, wie der umfassenderen Lebensverbände untereinander würde diese Lehre im Ernst uns verurteilen. Der Mensch kann (und sei es nur aus nacktem Selbsterhaltungstrieb) des Vertrauens zur Menschheit nicht entbehren, den Glauben an menschliche Würde und Sendung auf die Dauer nicht ungestraft mißachten. Der Mensch ist allerdings eine unvollkommene Gegebenheit; die Menschheit hin gegen ein vollkommenes Ziel. Und wir sind weder so gut, daß nicht jeglicher einzelne die Pflicht hätte, an sich selbst mit der Erziehung zum Besseren hin zu beginnen, noch sind wir als Masse so elend und verbrecherisch, daß der einzelne zur Verzweiflung berechtigt wäre und untätig verharren dürfte. Und das Leben bleibt xmbesiegbar. Es überwindet alle Bosheit, Vergewaltigung und Verderbnis der Men schen kraft höherer Art. Es erhebt sich aus dem Kerker der Not, in den es von gemeiner Macht bisweilen gepreßt wird. Unsterblich wirkt es fort wie ein ewiges Feuer und bleibt unter allem Schmutz, mit dem es beworfen, reine Flamme und starke Glut. Die Ekstase nach dem ersten und die gewisse Lethargie nach dem zweiten Weltkriege sind gleichermaßen Nachkriegspsychosen. Die Ekstase verpuffte und leitete gewaltigeres Verderben ein. Schon darum sollten wir hoffen, gläubig und nüchtern, daß aus der Lethar gie von 1945 ein Weg hinausführen kann in neues, geordnetes Leben, in edlere Zukunft. Und die uralte Forderung, deren Erfüllung die Menschen zur Menschheit erhöhte, bleibt darum auch für uns das mahnende und oberste Gebot: Lebende seid Liebende!

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