Oberösterreich, 29. Jahrgang, Heft 1, 1979

Während ich noch an diesen Zeilen grübelte, hörte ich die Frau vom Gepäcknetz lachen: „Sie müssen Ihre Brille aufsetzen beim Lesen. Sie sind zu komisch! Nein, wirklich. Das weiß doch jedes Kind, bevor es überhaupt lesen lernt." Ich suchte nach meiner Brille. Sämtliche Taschen durchwühlte ich. Vergebens! Wahrscheinlich hatte ich sie im Gedränge verloren. Damit waren auch meine Zeitschriften wertlos geworden. Für mich wenig stens. Ich sah es ein und ließ sie verstohlen zu Boden gleiten. Völlig nüchtern blieb ich den erregenden Eindrücken dieser Fahrt ausgelie fert. Man unterhielt sich davon, daß sich unser Zugführer entschlos sen habe, den Gegenzug, falls er nicht ausweichen wollte, mit unge hemmter Wucht zu rammen. Wir würden durch ihn hindurchbrau sen wie ein Lichtstrahl durch die Luft. Sein unrühmliches Ende würde kaum unsere Geschwindigkeit vermindern. Ich preßte die Lippen fest aufeinander, denn wo einem auch nur das geringste ängstliche Wort entschlüpfte, betätigte sich die Notbremse automatisch und der Unvorsichtige verschwand unter den rasenden Rädern. Angeblich wurden solche Opfer von Zeit zu Zeit gebraucht, um die Kugellager zu schmieren. Ein Mensch ohne Reisebrille war furchtbar gestraft. Mit flatterndem Herzen erlitt ich diese Fahrt, die eher dem Sturz eines Meteors glich, bis der lang ersehnte Zusammenprall mit dem Gegen zug endlich krachende Wirklichkeit wurde. Die Fenster zersplitterten. Der Zug wurde zur Ziehharmonika zu sammengedrückt. Eisen bog sich wie Kuchenteig. Unsere Lokomo tive war mit heftigem Knall explodiert. Unzählige Reisende wurden sofort getötet, viele stöhnten schwerverletzt und sterbend unter den Trümmern. Ich selbst fand mich unter den Resten einer Bank abscheulich gepreßt zwischen der Leiche jener Frau vom Gepäcknetz und einigen Körper teilen vom Inhaber des Fensterplatzes. Nach und nach gelang es mir, mich aus der qualvollen Enge zu befreien. Ich kletterte durch den zer brochenen Boden auf die Schienen und kroch zwischen Rädern und geborstenen Achsen schweißtriefend und blutig ins Freie. Es war stockdunkle Nacht. Über die leeren Felder pfiff eisiger Wmterwind und trieb mir dünne Schleier beißenden Schnees ins Gesicht. Es wimmelte von schattenhaften Gestalten, genau wie vor Jahrzehn ten auf dem Bahnhof, als ich abreisen mußte. Auf einmal stand mein Dienstmann wieder bei mir. Ich erkannte ihn am Sternzeichen des Löwen auf seiner Mütze. Hoch erfreut und gerührt fühlte ich mich bei ihm sofort wie bei meinem Schutzengel geborgen. ,,Löwinger!" ent fuhr es mir. ,,Woher kommen Sie denn? Hat Sie's nicht erwischt, nein?" Er klopfte mir freundlich auf die Schulter. ,,Schon gut! Schon gut!" sagte er wie ein greisenhafter Lehrer. „Sie haben kerne Zeit zu verlie ren. Sie müssen zu Fuß weiter. Hier dürfen Sie nicht stehenbleiben." ,,Aber wohin soll ich denn?" jammerte ich. ,,Darf man sich denn niemals ausruhen?" „Freilich", tröstete der Dienstmann, als ob ich ein Kind wäre, das sich verlaufen hat. ,,Sobald Sie am Ziel sein werden, finden Sie Ruhe. Mehr als genug, mein Bester. - Jetzt aber vorwärts! Hier am Bahn damm entlang bis zur Station." „Hades?" Die Bangigkeit meiner Frage berührte ihn sichtlich unangenehm. Er nickte knapp und fügte warnend hinzu: „Halten Sie sich immer am Schienenstrang! Hüten Sie sich vor eigenen Wegen durch die Win terwüste. Sie würden unweigerlich erfrieren! Haben Sie Gepäck?" ,,Nein. Meine Brille ist weg." „Macht nichts! Das letzte Stück geht es auch ohne." Er tat ziemlich dienstlich, legte zwei Finger der rechten Hand flüchtig an den Mützenschirm und verschwand. Wie zerschlagen machte ich mich auf den Weg. Früher, als es noch Frühling war oder Sommer und Herbst, wäre ich so gern gewan dert . . . Das war vorbei. Immer am Bahndamm entlang stapfte ich durch den Schnee. Vor mir und hinter mir gewahrte ich viele graue Schemen, die gleich mir zum Zentralbahnhof pilgerten. ,,Es kann nicht mehr gar so weit sein", sprach jemand von rückwärts. Ich drehte mich nicht um. Wir durften nicht stehen bleiben. ,,Hof fentlich!" meinte ich, denn mich schmerzten die Füße. ,,Hallo!" rief einer von vorn. - ,,Dort ist schon der Eingang!" Er dürfte recht behalten. Wenn ich mich anstrenge, glaube ich eben falls ein schwarzes Loch zu sehen; hufeisenförmig wie die Öffnung eines Tunnels etwa . . . r-v N' S: # jm A. //// ^ Lu ^■MM „Tod und Verklärung", Schlußvignette von Herbert Lange für die Erzählung ,,Das Mahl der Bulgaren".

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