Oberösterreich, 29. Jahrgang, Heft 1, 1979

Auf Seite 102: „Landschaft bei Ried", signiert links unten: 16.10.45 L. Das Gepäcknetz ist nicht schlecht. Ich kann mich ausruhen; und Er holung habe ich nötig. Auch quellen zusehends mehr Leute in den Wagen. Um die Plätze am Fenster und die bequemen Ecksitze wurde hart und mit geräuschloser List gekämpft. Vom Bahnsteig erhoben sich singende Stimmen: „Reiselektüre! - Reisebrillen gefällig! Illu strierte Reiselektüre!" - Obwohl ich mir nichts kaufen wollte, reichte man mir eine Brille sowie Zeitschriften herauf und nannte die Sum me, die ich zahlen mußte. Ich ärgerte mich. Wozu sollte diese Allerweltsbrille gut sein? Meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Um einen gepolsterten Fenstersitz hatte sich lärmender Streit erhoben. Soweit ich verneh men konnte, hatte sich der grobschlächtige Mann auf den Platz ge schmuggelt, als die ursprüngliche Besitzerin für einen Augenblick aufgestanden war, um Zeitungen zu kaufen. Nun gestikulierte sie wUd vor ihm und forderte ihr altes Recht. Der Mann hielt sie mit der ben Händen sich vom Leibe. Merkwürdigerweise vermochte ich keine Gesichtszüge zu erkennen. Sie waren verschwommen und wie aus Watte gebildet. Der widerspenstige Kerl und die keifende Person begannen mich aber zu interessieren, und ich hätte gern Einzelheiten erfaßt. Wozu hatte ich denn die Brille? Ich steckte sie auf die Nase und - und —, der Atem stockte mir vor Überraschung. Ich sah eine mäch tige Klippe im Ansturm der Brandung. Die freie See brauste. Ich lag auf erhöhtem Ufer über dem Strand und fühlte mich unendlich wohl. Als ich spürte, wie mich das raunende Wogen des Meeres einzuschlä fern begann, riß ich mir die Brille von den Augen. Sofort war das friedliche Bild verschwunden. Ich gewahrte wieder den abscheuli chen Wagen und die beiden Reisenden, die sich bereits an den Haa ren zogen. Das rauschende Wasser war nichts als die schiebende, drängende und unaufhörlich schwatzende Menge. Müde setzte ich meine Reisebrille wieder auf, um mich von der häßlichen Wirküchkeit zu erlösen. Es wirkte wunderbar. Ich fühlte mich auf paradiesischem Gefilde am Rand eines Ozeans,'der bis an die Grenzen des Himmels reichte. In der milden Luft, die das herrliche Büd in Hellblau und Rosa tauchte, flimmerte Licht wie Goldstaub im kostbaren Email. Ich schwor mir, diese Zauberbrille niemals wieder zu meiden und hätte es vielleicht auch getan, wenn nicht die Brandung immer heftiger geworden wäre. Der Gischt spritzte schon bis zu mir und drohte, mich mit salziger Lauge zu durchnässen. Ich wußte mir tatsächlich sehr bald nicht an ders zu helfen, als die Brille für einen Augenblick auf die Stirn zu schieben. Leider erkannte ich sogleich, daß die um ihren Platz betrogene Frau von dem breitschultrigen Mann abgelassen hatte und auf mich einhieb. ,,Sie sind schuld daran, daß ich stehen muß!" geiferte sie. ,,Niu: um Ihnen Zeitschriften zu holen, bin ich hinausgegangen. Damit Sie gemütlich liegen bleiben konnten! Man ist eben immer wieder zu gutmütig. Gefälligkeit ist Eselei!" - Der dicke Mann schrie gleichzeitig in die Menge, man möge mich endlich lüften und statt meiner die Dame ausruhen lassen. Er könne diese Mißachtung des schwacher! Geschlechtes nicht mehr lange mit ansehen, sonst reiße ihm die Ge duld! ,,Sie scheinen noch nicht begriffen zu haben, daß jeder den Platz er hält, der ihm gebührt", belehrte mich der Schaffner streng. ,,Aber es ist doch schließlich mein Zug!" trumpfte ich auf. Der Schaffner kniff die Augen zusammen und senkte die Mundwin kel verächtlich. ,,Wann wird bloß dieser vorgestrige Unsinn ver schwinden? Solange überhaupt noch etwas in den Köpfen spukt, ist es solcher Quatsch. - Sie sind nichts und haben nichts; am allerwe nigsten gehört Ihnen der Zug. Merken Sie sich das nun endlich!" ,,Welcher Zug ist es denn?" fragte ich kleinlaut. ,,Und wohin geht „Ekphora! - Endstation Zentralbahnhof Hades", verkündete der Be amte hoheitsvoll. ,,Canaille!" hauchte jemand in ohnmächtigem Haß neben mir. Es war kaum lauter, als werm er es nur gedacht hätte. Der Beamte hatte es aber doch gehört und zog blitzartig an einem Griff mit der Aufschrift ,,Notbremse". Darauf öffnete sich der Boden unter den Füßen des Unseligen wie eine Falltür. Ich sah ihn angstverzerrt stürzen, hörte seinen lautlosen Schrei und das Brechen von Knochen unter mal menden Rädern. Es mußte jener gewesen sein, der mich im Anfang zu trösten versucht hatte. Bestimmt, der war es! - Der Boden hatte sich wieder geschlossen. Die Reisenden taten, als ob sie nichts be merkt hätten. Manche nickten dem sich zurückziehenden Schaffner bewundernd und mit übertriebener Anerkennung zu. Er beachtete jedoch niemanden mehr. Ekphora , war das nicht ein Leichenzug im alten Hellas? Natür lich! Das Trauergeleit. Und Hades, mein Gott, das war die Unter welt . . . Ich wollte aussteigen. Mein Blick schweifte zur Tür. Sie war vergittert. Zum Überfluß hing noch ein Schild daran: „Aussteigen verboten!" Sogar vor den Fen stern befanden sich eiserne Gitter. Früher waren sie mir nicht aufge fallen. Ich war gefangen. Wir alle waren es. Selbst jene bevorzugten Fahrgä ste, die sich im Speisewagen in Klubsesseln räckelten und beim Wein die Frühüngslandschaft hinter dem bläulichen Gekräusel ihres Ziga rettenrauches entgleiten sahen. Aussteigen konnte keiner. Höch stens mit Hüfe der Notbremse durch die tödliche Falltür unter seinen Füßen. Es gab kein Entrinnen! Zu meinem Schrecken bemerkte ich außerdem, daß sich die Ge schwindigkeit unseres Zuges maßlos beschleunigte. Wir flogen förm lich dahin. Vor den Fenstern sauste die schöne Welt wie ein graugrü ner Leinwandstreifen mit einigen unbestimmten dunkleren Tarnflekken vorüber. Mir wurde übel -. Mein Magen sträubte sich gegen die ses wahnwitzige Tempo. Das war nicht mein Zug! Nein! Nein! „Schämen sollten Sie sich! Diese lächerliche Angst um Ihr bißchen Leben. Anstatt dankbar zu sein, in diesem sieghaften Zug mitfahren zu dürfen!" Es war merkwürdigerweise die Frau vom Gepäcknetz, die mich er mahnte. Viele Menschen redeten bewundernd von unserem Zugfüh rer und seinen tüchtigen Heizern. Sie waren die Helden dieser Re kordfahrt. - Wie gern wäre ich für mich allein ganz bescheiden zu Fuß gegangen . . . ,,Wenn man bedenkt, wie langsam die Personenzüge früher durch die Gegend rollten!" sagte das Weib im Gepäcknetz freundlich zu dem Grobian, der sie vom Fensterplatz verdrängt hatte. Er antwortete ihr jovial und mit einem selbstbewußten Unterton, als ob er zumin dest der Konstrukteur dieses Eilzuges zum Hades sei. An das Ziel schien übrigens niemand zu denken. Sie berauschten sich an den Ki lometern, die von den gefräßigen Rädern zermahlen wurden. Die meisten Passagiere trugen jetzt ihre Reisebrillen. Mir wurde immer elender. Vielleicht sollte ich auch Zuflucht suchen bei meiner Brille? Nur ein Weilchen, bis ich mich gekräftigt und inner lich ein wenig beruhigt hatte. Unter Umständen bot mir auch die Rei selektüre Zerstreuung? - Ich schlug ein sauber gedrucktes Heft auf. Es enthielt Hymnen an den Zugführer, gesungen von seinen Hei zern, und dazwischen mitunter Gedichte, deren Sinn unerkenntlich blieb. ,,Wandre durch die weite Welt Frage eh und je Keiner der mir Antwort gab Wolke Wind und Reh."

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