Oberösterreich, 29. Jahrgang, Heft 1, 1979

„Weißt du", sprudelte er los, als sie die Augen aufschlug, „ich habe mir eben überlegt, daß wir heute einen schönen Ausflug nach Was serburg unternehmen könnten. Möglichst bald. Dort werden wir zu Mittag speisen und für die Heimkehr weitere Pläne beraten!" Barbara entsann sich zögernd ihrer Bedrückung vom Abend und lä chelte. So war er nun: launenhaft wie ein verzogenes Kind, voll star ker, aber heftig wechselnder Gefühle. Ihn zu lieben, war nicht ohne Bitternis; aber böse bleiben konnte man ihm nicht. Da die Morgenstunden doch rasch entflohen und Coeslins Wander lust ungeduldig war, fuhren sie, eine günstige Gelegenheit benut zend, mit einem Personenzug das kurze Stück bis nach Wasserburg. Von der bescheidenen Haltestelle folgten sie einem ländlichen Wege zwischen Gärten und lieblichen Häuschen zum Seeufer, doch gerie ten sie zuerst auf den Friedhof, der durch eine hohe und wehrhafte Mauer vom Wasser getrennt war. Meinrad führte Barbara leicht an der Hand. Von der Mauer blickten sie hinunter auf die Wasserfläche, die im Sonnenglast blendete wie ein silbernes Blech. Meinrad war schweigsam, und Barbara achtete seine Stimmung. Später kletterten sie eine schmale Treppe zum See hinunter und stie gen über Geröll hin, das war gebleicht wie Totenbein. Auf eine flache Platte setzten sie sich nieder. Es war ruhig und warm wie an einem Mittag im Sommer. Coeslin hatte die Beine lang ausgestreckt; den Oberk^örper ließ er bald hintenüber sinken und auf dem groben Schot ter ruhen. Seine Augen hingen an FederwöLkchen, die unbeweglich im hohen Himmelsblau blühten. Als er die Augen schloß, schien es, daß er einschlafen woUe. Barbara betrachtete ihn, der neben ihr lag wie ein Bub, der das Heimkehren scheut. Seine Schläfen schimmer ten schon deutlich grau, und zwischen den Augen erhoben sich von der Nasenwurzel aus zwei ungleichmäßige, schmerzlich tiefe Falten, die dennoch sein Antlitz nicht wirklich gealtert sein ließen. ,,Er bleibt jung", dachte sie mit weiblicher Ängstlichkeit. Es war vor allem der trotz begehrlicher Weichheit feste Mund, welcher den Ausdruck schwärmerischer Jugend in dieses Gesicht zauberte, das doch so deutlich Spuren von frühem Leid und Vereinsamung trug. Er schien viel älter als fünfunddreißig Jahre und zugleich viel jünger. Barbara fühlte mütterliche Wärme aufwallen für ihn und eine grenzenlose Sehnsucht, ihm mit ihrer Liebe allezeit helfen zu können. Er durfte niemals verlassen sein. Ohne die Augen zu öffnen, begann Meinrad behutsam und leise zu pfeifen; eine schlichte Melodie von edler Gelassenheit. Es klang wie Gluck . Ja, es war der Reigen seliger Geister. Barbara hätte ihm eine Hand um die Stirn schmiegen mögen; aber sie wagte es nicht. Das Lied schwebte dahin. Und die Stille barg es sorglich unter ihrem weiten Mantel . . . Der Tag blieb sonnig. Nach dem Mittagessen und gemächlicher Rast bei Kaffee und Kuchen schlenderten sie heimwärts auf schmalen Fußwegen, die zwischen Obstgärten und Wiesen hinzogen. An den Obstbäumen arbeiteten fleißige Menschen, schnitten faule Zweige aus den Kronen und putzten die narbige Rinde mit Drahtbürsten sau ber. Aus manchem Geäst schallte ein freundlicher Gruß, den die Wanderer mit gutem Wunsche erwiderten. Im Gehölz riefen und zwitscherten Meisen und Zeisige. Die Wiesen waren von Schnee glöckchen weiß überperlt. Voll grüner Düfte war die Luft. Meinrad legte seinen rechten Arm um Barbaras Schultern, und sie schritten dahin in Frieden und heimlicher Freude. ,,Wie lange sind wir eigentlich verheiratet, Barbara?" „Im September werden es vier Jahre, mein vergeßlicher Gebieter." „Vier Jahre . . . und ich würde dich heute abermals heiraten, Bar bara." Sanft berührte sie seine Hand auf ihrer Schulter und genoß die Schauer der Liebe wie die flüchtige Köstlichkeit einer Frucht. Gegen Abend erreichten sie Lindau wieder. Sie versanken noch ein mal in den Anblick des Sees, den sie vor der Stadt durch das Netz der unbelaubten Zweige einer mächtigen Trauerweide wie einen Opal aufleuchten sahen. Zwei Schwäne zogen ihre geruhsame Bahn . . . Barbara war vom Gehen ermüdet und froh, daß sie sich vorm Abend essen im Hotelzimmer noch ein wenig auf den Diwan legen konnte. Meinrad begab sich inzwischen in die Gaststube hinunter, um das Nachtmahl zu bestellen und die Zeitungen zu durchblättern. Die Nachrichten aber hielten ihn nicht. Er konnte vor seinem Bier nicht sitzen. Es trieb ihn nochmals hinaus. Und er huschte ohne Hut und Mantel die Gasse entlang bis zum Hafen. Mit Vorsicht stellte er sich so auf, daß er in die Anlagen und zum Fernrohr blicken konnte. - Ach, er hatte es geahnt! Sie würde wiederkehren zur gleichen Stunde. Die dort stand und wartete war Li! Er spürte die Erregung seines Herzens in allen Gliedern. Das Beben in den Knien war widerlich. Meinrad zog sich unauffällig zurück. Das Abendessen ließ er im Zimmer auftragen. ,,Weil du so müde bist", meinte er zu Barbara. ,,Und weil wir es heute gemütlich haben wollen ganz unter uns." Barbara empfand seine Fürsorge dankbar und Meinrad gewann die notwendige Selbstsicherheit zurück. Aber vorm Einschlafen über dachte er doch den unseligen Zufall und die Lage immer wieder von neuem. Eigentlich war sein Benehmen bubenhaft dumm und die Hucht eine unwürdige Komödie. Aber was half es? - Die wenigen Ur laubstage, dieses seltene Gottesgeschenk, waren zu schade, um mit der Entwirrung alter Verknotungen freudlos vertan zu werden. Das mußte er Barbara und auch sich ersparen. Ja, und deshalb blieb es am klügsten, sich endgültig wegzuwenden vom See . . .

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