Inhaltsverzeichnis Schwerpunktthema Historische Kunst Dichtung in Oberösterreich In memorlam Franz Pühringer Gedanken und Interpretationen von Ger trud Fussenegger, Franz Josef Fleinrich, Rudolf Weiihartner, Karl Kieinschmidt 2 Eduard C. Heinisch Fleimkehr nach Oberösterreich - Die Attersee-Landschaft in den Tagebüchern Heimito von Doderers 9 Dr. Peter Kraft Es bleibt, indem es wiederkommt - Ten denzen progressiver Literatur in Ober österreich mit Fleimrad Bäckers ,,gruppe" und ,,edition neue texte" 15 Dr. Aldemar Schiffkorn Erfüllt von Wort und Widerhall - Heinrich Suso Waideck 23 Denkmalpflege Mag. Manfred Mohr Denkmalpflege im Bereich der Technik 31 Prof. Carl Hans Watzinger Die blauen Sensen - Zur Eröffnung des Sensenschmiede-Museums in Micheldorf 33 Dr. Walter Luger St. Anna in Steinbruch 41 Kunst der Gegenwart Prof. Karl Kleinschmidt Helga Aichinger - Versuch eines Künstlerporträts 51 Landeskunde Dr. Hans Sturmberger 400 Jahre Schloß Klaus 57 Oberösterreich aktuell Oberösterreichs Landwirtschaft unter neuer Führung 65 Sonderausstellung des Landes Ober österreich Im Linzer Schloßmuseum Das Jahr 1848 in Oberösterreich und Hans Kudlich 71 Gregor-Goldbacher-Förderungsprels der Stadt Steyr 1980 75 Bücherecke 77 Kulturzeltschrift Oberösterreich 28. Jahrgang, Heft 3/1978 Vierteljahreszeitschrift: Kunst, Geschichte, Landschaft, Wirtschaft, Fremdenverkehr Erscheinungstermine: März, Juni, September, Dezember Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Oberösterreichischer Landesverlag; Redakteur: Dr. Otto Wutzel; verantwortlich für den Inhalt im Sinne des Pressegesetzes: Dr. Elfriede Wutzei; Druck: 00. Landesveriag Linz, sämtliche 4020 Linz, Landstraße 41, Ruf (0 73 2) 78 1 21. Jahresabonnement (4 Hefte): S 178.-; Einzelverkaufspreis: S 55.-. (Alle Preise inkl. 8 % MWSt.) Umschlagbild: Helga Aichinger, ,,Ein Tropfen Tau", Wachskreidemalerei a,u,sMein Lese buch 3", 1975 erschienen im österreichi schen Bundesverlag, österreichischer Staatspreis bei ,,Die schönsten Bücher Österreichs", Bronzemedaiiie in Leipzig bei dem Wettbewerb ,,Die schönsten Bücher auasller Weit". Gestaltung: Herbert Friedl Schwerpunktthema von Heft 4/1978 Zum Innviertel-Gedenkjahr
Kulturzeitschrift Schon einmal hat sich unsere Zeitschrift mit dem Thema „Literarisches Oberösterreich" (Winterheft 1963) beschäftigt. Der zeitliche Abstand rechtfertigt wohl den Versuch, diese Themenstellung erneut mit aktuellen Bezügen aufzugreifen. Es soll mit dem Schwerpunktthema ,,Dichtung in Ober österreich" auch ein Hinweis gegeben wer den, daß im kommenden Jahr das Redak tionsprogramm von ,,Oberösterreich" er weitert und'ab Heft 1/19179 in jeder Aus gabe ein Dichterporträt veröffentlicht wer den wird. Bewußt wird in diesem Heft mit Gedanken und Interpretationen von Gertrud Fussenegger, Franz Josef Heinrich, Rudolf Weilhartner und Karl Kleinschmidt über Ge dichte von Franz Pühringer begonnen. Im Kulturbetrieb muß es wohl so sein, daß die echten Werte oft lange überdeckt bleiben. Die Gegenwart ist stärker als die Vergan genheit. Was gestern gültig war, wird von den unmittelbaren Erben meist übersehen. Bei Anwendung des Begriffes ,,Dichtung" wird Franz Pühringer für die oberösterrei chische Literatur bestehen bleiben. Daran wollen die Interpreten erinnern. Sie zeigen sich von seinem Werk ergriffen. Eine interessante Perspektive eröffnet Edu ard 0. Heinisch mit seiner Studie über Heimito von Doderer. Es soll keineswegs ver sucht werden, diesen Großen der österrei chischen Gegenwartsliteratur für unser Land und unseren Kulturraum zu beanspru chen. Der Autor hat lediglich aufmerksam in den Tagebüchern des Dichters gelesen und daraus seine Bezüge in der schweren Nachrkriegszeit zum Attersee rekonstruiert. - Heimkehr aus dem Krieg nach Oberösterreich! Ein Schicksal von vielen. Daß wir da bei viele schöne Wortbilder über die Atter seelandschaft erfahren, bedeutet im Lesen einen ästhetischen Genuß. Peter Kraft stellt Heimrad Bäcker und seine ,,edition neue texte" unseren Lesern vor. Daß die ,,konkrete Poesie" nicht unwider sprochen bleiben kann, daß sie nur einen kleinen Kreis wird ansprechen können, ist Tatsache. Doch gehört es zur Toleranz im Geistigen, sich mit allen Strömungen zu be schäftigen, die künsterlisch in einer Genera tion bestehen. Durch die Person von Dr. Heimrad Bäcker, der sich opferbereit für die von ihm vertretene Richtung einsetzt, ist Oberösterreich zu einem Mittelpunkt avantgaridistischer Dichtung geworden. Auch das ist ein Faktum, das anerkannt werden muß. Den Abschluß dieser Literatur-Überschau bildet Aldemar Schiffkorn mit seinem Erin nerungsbild von Heinrich Suso Waldeck, ei nem Dichter, der nie zur Ruhe kam, der we nig Verständnis gefunden hat und heute vergessen erscheint. Dr. Schiffkorn hat be reits sehr früh das Werk dieses Dichters ver treten und dem von ihm geleiteten Ober österreichischen Volksbildungswerk ist es zu verdanken, daß Heinrich Suso Waldeck zumindest in St. Veit im Mühlkreis, seinem Flucht- und Sterbeort, bewußt geblieben ist. Als gutes Beispiel einer erfolgreichen denkmalpflegerischen Arbeit in unserem Lande wurde das im heurigen Sommer er öffnete Sensenschmiede-Museum in Mi cheldorf herausgegriffen. Manfred Mohr gibt einführend einen Überblick über die Bemü hungen der letzten Jahre, in Oberösterreich technische Denkmale zu erhalten. Carl Hans Watzinger beschreibt sodann aus sei ner reichen Lokalkenntnis das ,,GradnWerk", das nunmehr Museum ist. Mit dieser musealen Zweckwidmung konnte wenig stens eines dieser Ensembles gerettet wer den. Sehr verdienstvoll erscheint die Arbeit von Walter Luger über eine oberösterreichische Filialkirche. Am Beispiel von St. Anna in Steinbruch erweist der Autor, welche Mög lichkeiten kunstgeschichtlicher Forschung durch Archivstudium noch bestehen. In der Sparte ,,Kunst der Gegenwart" wird Helga Aichinger aus der Verborgenheit ge holt. Trotz großer internationaler Erfolge wird die Künstlerin in der Linzer Kunstszene kaum mehr zur Kenntnis genommen, weil sie sich nicht dem allgemeinen Kunstbetrieb aufschließt. Ein Grund mehr, sie ins Be wußtsein zu rücken. Karl Kleinschmidt ist der berufene Interpret hiefür. Die Landeskunde vertritt diesmal in dan kenswerter Weise Landesarchivdirektor Dr. Hans Sturmberger mit seiner Abhand lung ,,400 Jahre Schloß Klaus". Wie wir es von diesem Autor gewöhnt sind, greift er weit über das gestellte Thema in die Zeitge schichte aus. in der Sparte ,,Oberösterreich aktuell" kann auf die neue Führung der oberösterreichi schen Agrarpolitik in der oberösterreichi schen Landesregierung hingewiesen wer den. Außerdem wird die Sonderausstellung im Linzer Schloßmuseum über ,,Das Jahr 1848 in Oberösterreich und Hans Kudlich" vorgestellt und der dankenswerte Entschluß der Stadt Steyr bekanntgemacht, im Jahre 1980 einen ,,Gregor-Goldbacher-Förde rungspreis" zu vergeben.
In memoriam Franz Pühringer Gedanken und Interpretationen Gertrud Fussenegger.. . Am 30. August 1977 ist der Dichter Franz Pühringer in Linz gestorben. Ich erfuhr durch Zufall von seinem Tod. Keine Zeitung brachte eine Notiz. Ein Vereinsamter, wohl auch Vergessener hatte die kulturelle Szene unseres Landes verlassen, auf der er noch vor zwanzig Jahren eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Wer war Franz Pühringer ge wesen? Er ist 1906 im steirischen Pernegg als Sohn eines Lehrers geboren worden und ver brachte seine Kinderjahre in St. Stefan über Leoben. Als der erste Weltkrieg zu Ende ging, war er gerade In das Alter gekommen, eine Berufswahl zu treffen, in jener Zeit chaotischer Zustände und allgemeiner Hoffnungslosigkeit eine schwere Entschei dung. Aber der junge Pühringer entschied nicht nach dem Gesichtspunkt materieller Abdeckung und Sicherheit. Ihn zog es zu den Künsten. Er wollte Maler werden, Zeichner, er wollte sich die Welt durch das Auge einverleiben; doch da dieser Wunsch keinesfalls nur romantisch motiviert, son dern auch von einem guten Quantum Sach lichkeit bestimmt war, wandte er sich der Technik zu. Gerade in einem technischen Kurs erfuhr er seine endgüitige Zuwendung zur Kunst, freilich nicht zur bildenden. Als Li teraturlehrer wirkte in der Technischen Lehranstalt ein Dichter, Dr. Otto Strigl, ein Expressionist von hohen Graden. Die Be gegnung zwischen Lehrer und Schüler ver lief beispieihaft: der Schüler schwenkte In die Lebens- und Gesinnungsiinie des Leh rers ein und erfuhr sich dabei seibst als schöpferische Potenz. Von nun an war Franz Pühringer der Literatur gewonnen. Doch keinesfalls wollte sich Pühringer als Heimchen am Herd zum dichterischen Wort meiden. Seine geräumige Natur zog es in die Ferne und in das vom Expressionismus vorgesehene, ja geforderte Abenteuer der Entgrenzung. Er ging nach Paris - wie fern lag das damals? - und er ging nicht dahin als wohlbestallter Reisender und Vergnü gungstourist, sondern im existenzielien Wagnis der Armut und Ausgesetztheit. Es ist hier vielleicht am Platz, einige Worte über den Expressionismus zu sagen. Wie sein Name verrät, entstand er in Gegen bewegung zum Impressionismus, der auf die Formel zu bringen Ist: der Mensch nimmt die Welt an, wie sie ist, wie sie ihm durch das Medium seiner Sinne zuströmt, er tue nichts hinzu, er tue nichts weg, die Welt der Sinne ist das Seiende. Und das Individuum ist nur Insofern, als es von dieser Welt impressioniert ist. Doch diese Welt bot keineswegs mehr das Franz Pühringer, geboren am 27. 12. 1906 in Pernegg in der Steiermark, gestorben am 30. August 1977 in Linz, 1951 Verleihung des österreichischen Staatspreises und des Adalbert-Stifter-Preises des Landes Oberöster reich, 1953 erster Preis des Dramatiker-Wett bewerbes des Landes Oberösterreich, 1959 Professortitel. Porträtfoto aus dem Jahre 1959. sonnig-farbige Augenfest, wie es sich im klassischen Impressionismus darstellte. Je Weiterdas 19. Jahrhundert fortschritt, desto deutlicher zeigte es sich von der Technik geprägt. Zum erstenmal erlebte der Mensch sich selbst als einen, der die Erde umgestal tet und auch zerstört. Das Werksgelände wurde zur Werklandschaft, Planlandschaft, Industrielandschaft. Die rasch wachsenden Städte überzogen die Erde mit einer Kruste aus Stein und Asphalt. Technisches und kommerzielles Denken drohten den Men schen total zu rationalisieren. Die Reaktion konnte nicht ausbleiben. Es bildete sich eine neue Bewegung. Der Mensch revoitierte gegen seine jüngsten Machwerke. Er wollte nicht erstarren, sich der ratio nicht unterwerfen lassen, wollte nicht als vermasstes Individuum in die ver steinerte Kruste der Zivilisation eingehen, er wollte selbst flammen, selbst vulkanisch, selbst in Bewegung bleiben. So besann er sich wieder auf Empfindung, Gefühl, Rausch, Emphase, auf Wagnis einerseits, auf feinste Sensibiiität anderer seits. Diese Bewegung, der Expressionismus, beherrschte Europas Künste vor und nach dem ersten und in Ausiäufern auch nach dem zweiten Weltkrieg. Vor diesem geistigen Hintergrund ist auch eine Gestalt wie Franz Pühringer zu verste hen. Im Vertrauen auf die eigene Kraft und die eigene unerschöpfliche Begeisterungsfä higkeit setzte er sich nach Paris ab. In der Tat gelang es ihm dort, als freier Schriftstei ler Fuß zu fassen und als Korrespondent und Mitarbeiter so wichtiger Zeitschriften wie ,,Simplizissimus", ,,Querschnitt" und ,,Weltbühne" hervorzutreten. Diese Mit arbeit brachte ihm einen geschärften Blick und eine kritische Distanz zur zeitgeschichtiichen Situation ein, und so wagte er es, nach seiner Rückkehr nach Linz das erste literarische Kabarett in Österreich zu grün den. Es befand sich im Hotel Wolfinger am Linzer Hauptpiatz. Sein Name ,,Thermopylen" ließ darauf schließen, daß sich Pührin ger der Kühnheit dieses Unternehmens voil und ganz bewußt war. Im Jahr 1933 gab die seit Anfang der Repu blik kränkelnde Demokratie in Österreich ih ren Geist auf. Totalitäre Systeme sind aber Menschen wie Pühringer nicht gewogen. So zog er sich aus dem literarischen Leben zu rück. Das heißt nicht, daß er nicht weiter ar beitete, nicht weiter reifte. Die Katastrophe in der Außenwelt wurde durch subtile Ausiäuterung im Inneren so weit wie möglich kompensiert. Pühringer hatte sich von jeher auf die sprö desten Formen der Dichtung konzentriert: auf Lyrik und Drama. Nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren, schien ihm endlich der Durchbruch auch in der engeren Heimat zu glücken. Es erschie nen einige Gedichtbände ,,Die Wiesen festung", ,,Das Paradies" und ,,Das Winter haus" (später zusammengefaßt in den drei Bändchen ,,An den Quellen der Neben flüsse", ,,Letzter Duft der Gartenfrühe" und im ,,Compendium für Freunde"); sein Schauspiel ,,Der König von Torelore" wurde 1951 in Linz, ,,Fanal um 1912" Im Akademietheater in Wien und in Öberhausen, ,,Abel Hradscheck und sein Weib" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und Linz und seine Komödie,,Flageolett" in Linz und Hamm aufgeführt. Franz Pühringer war auf der österreichischen Literaturszene so etwas wie ein Geheimtip geworden; er galt als ein sich stürmisch entwickelndes, weit ausgreifendes, starkes Talent. Aber die Zeit lief an ihm vorüber. Er ver schmähte es, seinen Weg zu verlassen und, wie so viele andere, schnell und behende mit aufzuspringen. Das Land öberöster-
Plakat der „Linzer Puppenspiele" aus dem Jahre 1942. n REDOUTENSAAL • LEITUNQ FRANZ PQHRINQER m lOom 1. Ws 12. fHprfl 1942 'Jioatäppf^tn iDoiftdlunoni Idien ninsoiti, Somstag und aonntog um 5 ll(it und 5 iUtii und am 0fltnnontag um i und 5 Ufir fintcttiMen p50 üpf. u. 301<)n(. Ui dn MritnunMuMHIc dct Statt. Aultunuiuts, ntolf<l!ftln>iDlat/und eine Stuntt DPI Ittel £loi|lelUiiig im tn Kode tei iPiiinitnfpItle. mti 15. IRpill: Hie dititlitMcgsc Oben: Die „Linzer Puppenspieie" auf Gastspiel reise: Glückliche Kinderaugen bei einer Aufführung in einem Flüchtlingslager in Asten. Foto: Lichtbildstelie des Kuituramtes der Stadt Linz. Rechts: Franz Pühringer mit seinen „Puppen" bei Vorbereitung einer Kindervorstellung im Rathausfestsaal von Linz, der durch viele Jahre Heimstätte der,,Linzer Puppenspiele" war. Aufnahme aus dem Jahr 1948. Foto: H. Heidersberger, Braunschweig.
Franz Pühringer im Kreis seiner „Puppen spiel-Familie", neben ihm die Linzer Malerin Franziska Newald, die durch viele Jahre die Bühnenbilder für die ,,Linzer Puppenspieie" schuf. Aufnahme aus dem Jahr 1963. reich verlieh Ihm zwar 1951 den AdalbertStlfter-Preis. Eine Zeltlang führte Franz Pühringer In Linz eine Puppenbühne und bewährte sein dramatisches Talent an die ser konzentrierten Kleinform der dramati schen Kunst. Doch dann zog er sich ganz aus dem öffentlichen Leben zurück, wollte kaum noch publizieren, lehnte es sogar ab, In kleinem Kreis zu lesen. Nur Im Internen Gespräch unter Freunden gab er sich kund und erzählte aus seinem Leben, von seinen Reisen, seinen Begegnungen; alle diese Er zählungen trugen das Siegel dichterischer Eindringlichkeit und Kraft. So habe Ich Ihn erlebt. Man kann darüber streiten, ob Pühringers Stärke In seiner Lyrik oder In seiner Drama tik lag. Mir scheint, daß seine Gedichte leichter zugänglich sind als seine Dramen. Doch was sind Dramen, wenn sie nur gele sen werden können? Die tragische Situation des Autors, der für das Theater schreibt, ohne doch ein Theater für sich In Anspruch nehmen zu können, Ist auch In diesem Werk ablesbar. Die szenische Phantasie des %.f % Die ,,Linzer Puppenspieie" Im Kellertheater. Aufnahme aus dem Jahr 1970.
Dichters bleibt ohne Bühnenraum und ohne Interpreten ein zwar gedeckter, aber nicht eingelöster Scheck, also Papier. Rühringer verfügte über eine starke, im merwache und fruchtbare szenische Phan tasie. Er verfügte über eine Fülle von Moti ven, über einen erstaunlichen Reichtum an Charakteren. Auffallend waren mir seine Frauenfiguren, die ein weites Spektrum sei ner Menschenkenntnis und darüber hinaus seiner Intuition, seiner dichterischen Ent wurfskraft beschreiben. Rühringer verfügte über die leichte, sicher balancierende Hand des Komödienschreibers wie über den schweren, gleichsam skuiptierenden Griff des Tragöden. Sein Anspruch an szenische Verwandiungskünste ist nicht gering- (und hat vielleicht auch den weiteren Weg seiner Werke über die Bühne gebremst), dafür ist sein Angebot an Rollen überreich, ein Abel Hradscheck, ein Dr. Sommer (,,Ein Haus wie von Bonnart"), ein Freundinnenpärchen wie Sybill und Joschi aus ,,Flageolett" sind Kabinettstücke komödiantischer Möglich keiten. An Epischem hat uns Rühringer nur seine schöne dichte Sommererzählung ,,Das Nat ternhemd" hinterlassen. Umso reicher ist sein lyrisches Werk. Zu ihm werden drei Kol legen das Wort ergreifen. Ich möchte aber nicht darauf verzichten, zwei Proben zu zi tieren, die mir zwei äußerste Positionen in Pühringers Werk zu bezeichnen scheinen. Die erste: ,,Niemand hat uns aus dem Paradies vertrieben und wer hätte dies auch je vermocht? Gott, der dort, wo er sich nicht in ihm beschriehen, als ein Ungestalteter und Wüster kocht?" Links (S. 4): Franz Rühringer bei einem Ausflug mit seinen Enkelkindern. Aufnahme aus dem Jahr 1965. Hier ist das menschheitliche Anliegen des Expressionisten zur Sprache gekommen, das Ungebärdige und Rebeilische, hier ist eine durchaus aufgewühlte Weit zu Wort gekommen, ein schöpferisches Chaos, das auch noch in der Gottheit als ,,Ungestalte tes" wütet und sich künftigen Welten entge genmüht. Hier spricht Stolz, Aufruhr, Aufbruch, die breitausladende Sprachgebärde vor allem der letzten beiden Zeilen ist voll kreativen Selbstbewußtseins. Ganz anders, zurückgenommen, von au ßerordentlicher Zartheit - doch nicht weni ger expressionistisch - die Probe: Der Einsam-Schlafiose lauscht dem leise sten Flüstern und Seufzen des Seins, dem Faligeräusch von Blütenblättern. Mit höch ster Behutsamkeit tastet die Sprache die sem Erlebnis nach. An diesen beiden Pro ben wäre zu ermessen in weicher Polarität sich Franz Pühringers Dichtkunst entfaltete: zwischen Kühnheit und Zartheit, Entschie denheit und Hellhörigkeit, einen weiten Bo gen beschreitend. Juninacht Immer wieder Leises als tappe Weichpfotiges durchs Zimmer. Licht! - Was war es? Der Pfingstrosenstrauß hat seine schweren fleischigen Blütenblätter bis auf zwei verloren.
Franz Josef Heinrich ... Rudoif Weiihartner... Der Stein Ich habe mir in einem Tibetfilm einen Stein, einen ganz gewöhnlichen kleinen Stein am Wegrand, gemerkt. Nie, nie werde ich ihn je in Wirklichkeit sehen Ansturm ,,Wie voll ist die Welt von Bildern? Wohin rette ich mich vor ihrem Ansturm?" Ich habe meiner Interpretation des Gedich tes „Der Stein" von Franz Pühringer einen Titel vorangestellt, der eigentlich auf alle Gedichte des Autors anwendbar ist: Die la konische Sentenz. Wie jede Lyrik besteht auch die Franz Pühringers aus Kürzeln, Formeln, Symbolen, die ein Ungesagtes, manchmal Unsagbares verschlüsseln. Der Leser, einem Rutengänger vergleichbar, betritt diesen Sprachboden, um seine ihm ganz eigenen Funde zu machen. In fast al len Gedichten Franz Pühringers spieit die Natur, spielen die kleinen, gewöhnlichen Gegenstände des einfachen Lebens eine große, immer wiederkehrende Rolle. Es Ist ein Ziel in diesen nach Wirklichkeit suchen den Versen, und je entfernter dieses Ziel Ist, umso verlockender erscheint es: Ein Stein, verschlossen, unnahbar, rund, hart, Symbol der Welt, weggewischt in die Ferne, nach Tibet, ins Ungreifbare. Er wird nicht einmal wirklich, das heißt gegenständlich gesehen, sondern nur als Abbild, im Film. Das ,,lch" des Gedichts, der Sprecher, merkt sich die sen Stein, er wird ihn nie mehr vergessen, er trägt ihn mit sich im Bewußtsein, das wiegt schwerer als die tatsächliche Last. Die Welt liegt auf ihm. Beiläufig wird ein Wegrand er wähnt Vielleicht haben Füße beim Gehen den Stein beiseitegeschoben. Aber welcher Weg Ist gemeint? Ist es der Pfad der Händ ler, die ihre Ballen zum Verkauf in die ein zige und geheimnisvolle Stadt Tibets (Lhasa) bringen? Ist es der Pfad der Mönche auf ihren lebenslangen Wanderungen? Oder der der Pilger, die auf Erlösung aus dem schmerzhaften Rad der Wiedergebur ten hoffen? Ist es unser aller Lebensweg, wobei ja jeder Weg bereits Lebensweg ist. Weg zum Leben, Weg zum Tode? Der Vers bleibt offen, für jede Deutung bereit, und die scheinbare Banalität, das ohne pretiösen Aufwand Hingesagte des ganzen Gedichts gewinnt einen neuen Stellenwert. Der Schluß zeigt schließlich das, was ich als lakonische Sentenz bezeichnet habe, die Wahrheit, die den Inhalt des Gedichts sinn fällig macht: ,,Nie, nie werde ich ihn in Wirk lichkeit sehen." Hier erfolgt der Umschlag der Wirklichkeit in ihre Gegenwirklichkeit. Das doppelte ,,nie" drückt über die Versa gung Schmerz aus, aber der Vers verdeut licht auch die Verweigerung als Welter kenntnis, Nichthaben als eine andere, im materielle Form des Besitzens. Oder anders gesagt, was gewonnen wird, ist Verlust, im Nichthaben aber liegt der wirkliche Besitz der Welt. Bei der Beschäftigung mit der Lyrik Franz Pühringers ist meine Wahl auf den vorlie genden Text gefallen, well mich sein Dunkel zu beschäftigen begann. Der Text ist kurz; er besteht nur aus zwei Sätzen; und es sind zwei Fragen. Die erste Frage iautet: ,,Wie voll ist die Welt von Bildern?" und könnte soviel heißen wie: Ich möchte gerne wissen, wie voll die Welt von Bildern ist. Aber handelt es sich hier überhaupt um eine echte Frage? Ich meine, haben wir es hier nicht eher mit einem Ausruf zu tun? Dann wäre der Satz wie folgt zu lesen: Wie voll Ist die Welt von Bildern! Es könnte ein Ausruf des Erstau nens, der Verwunderung, ja, vielleicht sogar eines Entzückens über die Fülle der Bilder (welcher Bilder auch immer) sein, würde uns nicht der darauffolgende Satz in eine ganz andere Richtung weisen, wenn es da heißt: ,,Wohin rette ich mich vor ihrem Ansturm?" Nein, die Bilder werden hier ganz offensicht lich nicht als etwas Beglückendes erfahren, sondern ganz im Gegenteil als etwas Be ängstigendes, Bedrohliches, ja. Anfeinden des, sonst würde sich der Sprecher des Tex tes nicht um ein Rettendes umsehen wollen. Und die Vokabel,,Ansturm", womit der Text überschrieben ist und auch endet, scheint uns in dieser Auffassung noch bestärken zu wollen, denn Ist es nicht so, daß dieses Wort allein schon Unruhe, Gefahr, ja, in irgendei nem Sinne Aggression signalisiert? Und das Feindliche ginge in diesem Fall von Bildern aus. Aber von welchen Bildern, das ist die Frage. Denn soviel steht fest, sie könnten ein Schlüssel zu unserem Text sein. Handelt es sich um Bilder der äußeren Wahrneh mung? Die profane Variante. Oder handelt es sich um solche einer inneren Sicht? Die sublime Variante. Akademische Fragen. Befragen wir einmal das lyrische Werk un seres Autors. Was steigt da nicht alles vor dem Auge des lyrischen Ichs auf: eine Märzlandschaft z. B., ein Frühlingsspaziergang, ein Berg dorfsonntag, ein Wiesensommer, ein schö ner Herbsttag, Winter, ein Land, eine Stadt,
ein Knabenleben, eine Botschaft, die Sonne Homers, eine Liebeserklärung, ein Vers, das Paradies, Unsterblichkeit und und . . . Die Reihe ließe sich fortsetzen. Schöne Bilder, alles andere als bedrohlich, nicht solche, vor denen, sondern eher/n die man sich, wenn schon, retten möchte. Aber da gibt es noch andere Bilder, Bilder von Riesenstädten z. B., von Kumpelstädten, Geschoßbahnen von Revoiverkugeln in Chikago, Bilder von Panzern und Flugzeu gen, Bilder eines Aufschreckens, Bilder der Müdigkeit, Bilder eines Erlöschens und Bil der des Todes. Bilder über Bilder. Auch diese Reihe ließe sich verlängern. Aber keine schönen Bilder. Bilder, die im Gegen satz zu den anderen Bildern stehen, und es wäre schon verständlich, wenn man die Au gen davor verschließen möchte. Und so ge sehen, könnte der erste Satz soviel heißen: Wie voll ist die Weit von häßlichen Bildern?! Aber gehen wir der Sache näher nach. Bei eingehenderer Betrachtung des lyrischen Werks unseres Autors fällt auf, daß der Be griff BILD sehr häufig anzutreffen ist. Da er gibt z. B. ein flatternder Falter das BILD ,.fröhlich Beifall klatschender Hände"; ein Gewitter wird als BILD eines Kampfes ge schildert; ein Autobus auf einer staubigen Landstraße wird zum BILD eines schnüf felnden Schweinerüssels; BILD ist einfach Erscheinung (Hecht im Wasser); Schwal benbrüste nehmen die Konturen eines BIL DES an; zum BILD verbrennt auch der ,,rohe Stoff" in den Händen eines Bildhauers; ein Winterwaid ist das sozusagen festgefrorene BILD eines einst rauschenden Sommerwai des; BILDER sind auch ganz konkret BIL DER mit,,Heiligen" oder von ,.großen Ma iern"; BILD ist aber auch ,,Biid der Welt", das z. B. im Wein ,,ioht" oder ,,wie ein Totenantiitz" als Dämmerung ,,einbricht" oder im Tode gänzlich ,,erlischt". BILD ist ,,Gleichnis", ,.Geheimnis", ,.Zeichen" und Zeichen wiederum BILD (z. B. in der,.Spra che" des Schwänzchens einer Katze). Nun ist es allerdings so, daß BILD hier vor allem ein Stiimittei der Sprache meint und in dieser Bedeutung für unseren interpretationsansatz vorläufig nicht mehr herzugeben scheint, interessanter und sicherlich auch relevanter in bezug auf eine mögliche Sinnaufschiießung unseres Textes könnte da schon der Umstand sein, daß in der Lyrik Franz Pühringers der Biidgegenstand sehr häufig in Bewegung ist, manchmal sogar überaus emphatisch, ja, das Bild kommt oft sogar direkt auf den Bildbetrachter zu, und während dem Bild selbst eine überaus ak tive Rolle zukommt, erlebt sich der Be schauer selbst passiv. So kommt z. B. das Weiß (Wände, Schnee) auf einen ,.zugeflo gen"; die Steine eines Schlosses,,bäumen" sich vor einem ,,ais eine Woge hoch" (,,wie gepeitscht von einem einzgen Geistesstur me"); und das Meer,.fällt noch im Blau des Himmels über einen her"; der Wald ,.springt" an einem ..hoch"; der Sommer ,,brandet" an ein Dorf; der Sommer kommt ,,stürmisch"; und auch ..der Himmel stürmt an"; und ein Sonnenbiumenfeid ,,stürmt" einem ,.entgegen"; und schließlich erschei nen die goldenen Kronen von Herbstbäu men wie der ,.Ansturm eines Heers". Und hier treffen wir zu unserer Überraschung wieder auf das Vokabel ,,Ansturm" und seine Entsprechungen, und immer ist von der Natur die Rede, von Naturerfahrungen und ihrem bildhaften Ausdruck. Es liegt nun die Frage nahe, ob wir auch unseren Text hier einreihen dürfen. Es deutet bis auf die eine Vokabel nichts weiter darauf hin. Es gibt keine Anspielung auf Ort. Zeit oder kon kreten Umstand. Wir müssen uns ganz an die Sprache halten, und da fällt einem auf, daß in der Naturlyrik Franz Pühringers (auch) ein gewisses aggressives Moment, das sich In einem Vokabular, das der Kriegssprache entlehnt zu sein scheint, ausdrückt, eine auffallend bedeutsame bild liche Rolle spielt. Da Ist z. B. vom Himmel als einem,,Späher" die Rede; er ist ein ,,Be lagerer"; er ist eine ,,Pranke"; er ,.führt Streich um Streich"; auch ein Gewitter führt ,.Streiche"; und ein Teich ist, in die Verteidi gung gedrängt, ein ,.blanker Schild"; ein Wetterleuchten erscheint wie eine ,,nacht stille Kanonade"; und scheckige Kühe am Waldrand ergeben das Bild von ,,Panzer(n) in ihren Tarnanstrichen"; und die Türme eines südlichen Städtchens sind ver gleichsweise ,.übrig gebliebene Pfeile im Köcher"; und die Sprossen von Leitern In herbstlichen Gärten erwecken den Ein druck, ,,als würden hier von jemand tausend Pfeile abgeschossen". Die Bilder haben, wie wir sehen, tatsächlich beinahe militan ten Charakter, aber es sind, wie gesagt, Bil der, und es ist nicht die Natur selbst; zu ihr hat der Autor, wie ich sehe, kein gestörtes Verhältnis. Er mag in ihr vielleicht so etwas wie den Kampf des Daseins In Irgendeiner Art wiedergespiegelt sehen. Aber führt von da ein Weg zu unserem Text? ich glaube, wir sollten vielleicht den Begriff,, Bild" weiter fassen, ja, vielleicht sogar alles Geschaute, das irgendwie Kontur annimmt, miteinbeziehen. Da kann alles Gewicht bekommen, was die Optik erfaßt, und alles von Bedeu tung werden, was schließlich erfahren und erlebt wird. Die Weit als Stoff für das rezep tive ich, wenn man so will. Das findet seinen Niederschlag - beispielsweise auch in ei nem Gedicht. Bei Franz Pühringer ist das sehr augenfällig. In seiner Lyrik findet man vielfach Momente seines Lebens festgehalten. Wo er war, was er sah, erfuhr, erlebte: Beobachtungen, Stimmungen, Reflexionen. Und was sich zu Bildern formte, in diesem Zusammenhang sollten wir vielleicht auch einmal auf den Puppenspieler Pühringer zu sprechen kommen. Ich glaube, das ist nicht einmal so sehr weit hergeholt, wie es auf den ersten Bück scheinen mag, denn wenn man sich beispielsweise Pühringers Erinnerungen ,.Wieso Puppentheater?" vornimmt, dann wird man vollends ermessen können, wei che Rolle und Bedeutung bei Pühringer den Bildern zukommen kann: ,,Einmal gerieten wir in einer Burg an der oberen Donau mitten In einen eben ausgebrochenen Aufruhr. Der Lagerleiter hatte einige Minuten zuvor sein Heil in der Flucht gesucht. Und wohl auch gefunden. Bilder, Bilder, Bilder ohne Ende . . ." Es ist, wie schon gesagt, vor al lem von Erinnerungen die Rede. Aber Erin nerungen - das ist so eine Sache: ,,Bilder und Erinnerungen, die einem jeden Ausweg verstellen, den man allerdings sowieso nicht mehr sucht, gelähmt von dem fast bestür zenden Bewußtsein, einer solch unüber sehbaren Zahl von Kindern für ihr ganzes Leben unvergeßliche Höhepunkte ge schenkt zu haben . . . Bilder, Bilder, Bilder." Hier fallen, wie ich meine, aufschlußreiche Worte: Bilder und Erinnerungen - und beide sind hierfürSynonyme zu nehmen-verstel len den Weg. Sie sind ein Hindernis, eine Last. Warum? Weichen Weg verstellen sie? Ist es der Weg in die Gegenwart? Oder der Weg in die Zukunft? Wohl beides. Hier ist sogar von Ausweg die Rede, das verschärft die Situation noch, aber der wird hier so wieso nicht gesucht, d. h. nicht mehr, viel leicht sind frühere Versuche fehlgeschla gen, und vieiieicht will der Sprecher auch gar nicht mehr, hat resigniert, aus weichen Gründen auch immer, vielleicht aus dem Blickwinkel eines Alternden, wer weiß, der einer Zeit nachhängt, die vorbei ist, Vergan genheit ist, Erinnerung, eben Bild, Albumbiid, so möchte man hinzufügen, eines Pup penspielers: ,,Blühende Sommerwiesen, wogende Getreidefelder, Himmel, Wälder, bald fern, bald über einem zusammenschla gend. immer wieder überraschend ins Blick feld: Kirchturm mit seiner Ortschaft. Und je des Dorf damals noch sauber in die Land schaft geschnitten. Scharf umgrenzt. Nicht in Dutzenden, färb- und formloser Neubau ten auseinanderlaufend und das Land ver unreinigend. Und in den Orten: Weiche Sauberkeit! Eine Kost, wie sie die Hausieute bekamen, den Fremden gab es nicht. Das einzige stets zu kurze freie Bett in einer rie sigen quadratischen Stube im ersten Stock. Diese jeweils seit Fronleichnam, da man die
Heiligenbilder und Messingkerzenleuchter wieder hereinnahm, nicht mehr gelüftet. Voll vom Duft zum Trocknen aufgehangenen Thymians und anderer Kräuter. Unvergeß lich herrlich . . ." Das alles ist, wie gesagt, unvergessen, mehr noch, unvergeßbar, auch wenn man vergessen wollte. Aber will man überhaupt? Eine rhetorische Frage. Hier hängt jemand einer Zeit nach, die schön war, herrlich war, wieder Autor sagt, und die es nicht mehr gibt, schon damals, 1963, als diese Erinnerungen niedergeschrieben bzw. gedruckt wurden, nicht mehr gab. Die Erinnerung hat die Zeit vergoldet. Und es liegt eine leise Wehmut darin. Warum wir die Worte zitiert haben? Weil ich glaube, daß wir sie vielleicht mit unserem eigentlichen Text in Zusammenhang bringen dürfen, ja, viel leicht sogar legitimiert sind, ihn von daher aufschließen zu dürfen. (Das allerdings im mer mit dem Vorbehalt, den man einem Text gegenüber haben muß, der so wenig kon krete Handhabe bietet.) Hierwie dort ist, wie gesagt, von Bildern die Rede. Hier wie dort ist von ihnen nicht bloß als von einem Stil mittel der Sprache die Rede, sondern als von etwas von, wie wir fühlen, sehr persönli cher Relevanz für den Autor. Und schließlich spüren wir hier wie dort die gleiche Proble matik heraus: Es ist das Erleben einer Aus weglosigkeit, nicht so sehr im existentiellen Sinne, das vielleicht auch, mag mitgemeint sein, sondern in dem Sinne, daß es kein Ent rinnen von dem gibt, was sich einmal in ei nem Leben begab und unauslöschlich im Gedächtnis festgesetzt hat, denn alles, was einmal war, hört irgendwie nie auf, gewesen zu sein. Und hielt die sensible Figur des lyri schen Ich dort noch Ausschau nach einer Errettung aus diesem empfundenen Dilem ma, so hat da der Mensch Franz Pühringer, ,,gelähmt" von einem ,,fast bestürzenden Bewußtsein", eingesehen, einsehen ge lernt, mit den Bildern, mit allen Bildern zu le ben, leben zu müssen. So oder so ähnlich mag denn auch die Antwort, eine der Ant worten, auf die zweite Frage unseres Tex tes: ,,Wohin rette ich mich vor ihrem An sturm?" lauten. Sie liegt jedenfalls nicht in, kann nicht im Vergessen liegen, noch in ei nem fortgesetzten Blick zurück. Es wäre der Blick eines Kaninchens ins Auge einer Schlange. ,,Nein, so gejwinnt sich nichts, in leerem Tosen, / errettet ist nur, was sich deutlich singt. . .", spricht der Autor an ei ner anderen Stelle. Ist das vielleicht die Antwort auf den Text? Karl Kleinschmidt... Ein Gedicht von Franz Pühringer sollte man vor sich hinsprechen. Man sollte ihm nach lauschen. Man sollte es schmecken, rie chen, essen wie eine Frucht. - Nichts ist nichtig in seinem Kosmos und das Un scheinbare, Verborgene wird ihm groß. Die Schatten machen die Figur erst ganz. Das Ungesagte sagt erst alles, das Schweigen ist größer als alle Worte. Im Stein, in der Wolke, in einem Wimpernschlag kann alles gegenwärtig sein, das Unbegreifliche, das nur zu leben ist. Die Dinge selber werden mündig. Ihm genügt ein Hauch, der Tautropfen, der das Universum spiegelt, die Muschel, in der das Weltmeer tönt. Das Samenkorn, das kommende Wälder umschließt. Ein Spin nenfaden vor dem Nichts, das alles ist. - Unsterblichkeit O, ich Unsterblicher! Denn tot bin's ja schon nicht mehr ich! Stein, Grashalm, Vogel, Mücke Ist auch er selbst. Oder Schnee, der Im ersten Strahl wieder schwindet. Was für eine Gewißheit, jenseits der Schranken eines ,,lch", in aller kreatürllchen Verlorenheit als Teil des unendlichen Ganzen ,,unsterblich" zu sein. Ich hoffe, man versteht ihn: so darf nur sprechen, wer nicht sich selber meint, sondern Leben über allen Begriff hinaus, das auch in ihm und dem Seinigen Gestalt geworden ist. Erlauben Sie mir, vier ganze kurze Gedichte zusammenzufassen, als wären sie Stro phen eines einzigen. Sie scheinen mir die sem Anlaß besonders gemäß. Das letzte, das nur aus zwei Zeilen besteht, Ist vieldeu tig, doch jede Deutung schränkt auch ein. Hier sollte man nichts mehr berühren. Wer Ohren hat, der höre. Selbstbildnis Ich bin der Schnee, der noch nicht liegen bleibt. Geborgenheit Und wenn die Menschen meine Verse noch nach tausend Jahren liebten . . . der Mücke zählt es nicht. Ihr bin ich Futter. Frage Wenn ich erst einmal gestorben bin, war es dann jemals meine Hand, die diesen Vers auf dieses Blatt geworfen?
Heimkehr nach Oberösterreich Die Attersee-Landschaft in den Tagebüchern Heimito von Doderers Eduard C. Heinisch Gibt es eine Wirkung von Landschaft und Architektur auf das Innere des Menschen, die über das hinausgeht, was heute als ,,Umwelteinfluß" geläufig Ist? Oder Ist es nur ein alter Aberglaube, ähnlich dem an das ,,Verschauen" von Schwangeren, der meint, daß die Innenwelt von der Außenwelt geprägt wird? Solche Fragen könnten eine ganze Reihe von Wissenschaften heraus fordern- und an Ihren Antworten wäre abzu lesen, ob sich etwa der Aufwand, den wir für Naturschutz oder Denkmalpflege betreiben, überhaupt lohnt. Die Kunst, so scheint es, gibt deutlichen Be scheid. Solange sie noch Abbilder erzeugte, verhielt sie sich zum Bild wie der Spiegel zum Objekt, wenn auch In mancherlei Licht brechung. Muslkstücke malten Landschaft und Architektur. Beethoven sei nicht denk bar ohne den Wienerwald und Bruckner nicht ohne oberösterreichische Dörfer. Und die Literatur? Gäbe es einen Stifter ohne das Mühlviertel? Es gehört längst zum Geblldetentourlsmus, der In England seine Wurzeln hat, daß sich, fachkundig kommentiert, ,,Schauplätze österreichischer Dichtung"^ aufsuchen las sen. Dies war Kafkas Schloß und dies das Schlachtfeld des Cornets von Rilke, hier war die Klosterschule der Frlschmuth und dort das Kalkwerk Bernhards. Der germanisti sche und nahezu kriminalistische Spürsinn hat seine Reize. Die Rückübersetzung des Wortes Ins Optische gelingt scheinbar so glatt wie Im Fernsehen. Der genlus locl wird konsumierbar. Das volksbildnerische Ver dienst der Bemühung Ist unbestritten. Aber es Ist natürlich ein Irrtum, zu meinen, künstlerische Innenwelt sei wie beim Photo eine Frage der richtigen Blende und Belich tungszelt. Der Dichter erwacht, schaut zum Fenster hinaus, ein herrlicher Sonnenauf gang, drei, vier, ein Gedicht! So Ist das be stimmt nicht. Der Zusammenhang Ist vielmehr ungemein kompliziert und vielschichtig. Ein ganzes Leben kann als Zeltraum, ein ganzer Konti nent als Entfernung zwischen dem Eindruck und seinem künstlerischen Reflex liegen. Kunst lebt von Erinnerung und Phantasie. Unter den Beispielen, die dafür heranzieh bar sind, gibt es ein für Oberösterreich be deutsames, welches hier vorgestellt werden soll. Die „Strudlhofstiege" am Attersee In Heimito von Doderers Roman ,,Dle Strudlhofstiege"^, dem zentralen und ruhm begründenden Werk des Schriftstellers, er lebt der Leser die dichte Atmosphäre der Stadt. Es mag ihn ernüchtern, zu erfahren, daß Doderer die komplizierte HandlungsA W::: Heimito von Doderer, Porträtzeichnung von Anton Wetzl, die der Künstler liebenswürdiger weise zur Verfügung stellte. und Figurenführung am Reißbrett entworfen und kontrolliert hat. Es mag Ihn aber auch verwundern, daß entscheidende Teile des Konzepts und der Niederschrift dieses Bu ches nicht etwa In Wien entstanden sind, sondern in Weißenbach am Attersee. Dabei Ist von den Eindrücken der oberösterrelchlschen Landschaft überhaupt nichts nach weisbar. War Doderer ein totaler Ignorant? Konnte gerade Ihn, der so viel über den Vor gang der,,Apperzeption" nachgedacht und geschrieben hat, der es als Aufgabe und Auszeichnung des Schriftstellers empfand, stets sensibel und genau zu reagieren, die Attersee-Landschaft gar nicht beelndrukken? Ist es denn möglich, eine Naturkullsse von so unvergleichlicher Lieblichkeit und Gewalt aus dem Bewußtsein zu verdrän gen? Und Ist es diese Fähigkeit, die wir als Disziplin an großen Autoren auch noch be wundern? Das Phänomen Ist fast unheimlich. Es findet seine Erklärung durch dieselbe Quelle, aus der wir einiges über die Entste hung der,,Strudlhofstiege" wissen. In Hei mito von Doderers Tagebüchern ,,Tangenten"3 wird über den Aufenthalt In Oberöster reich berichtet. Hier wird erwähnt, daß der Roman ,,Dle Strudlhofstiege" aus bereits mitgebrachten Entwürfen und Passagen In Weißenbach am Attersee Gestalt annahm und In Wien fertiggeschrieben wurde. Dode rer Heß sich bei dieser Arbelt nicht ablenken. Die Impression des Attersees ging andere Wege, die In den Tagebuchaufzeichnungen zu verfolgen sind. Ein Heimkehrerschicksal Heimito von Doderer geriet als Teilnehmer des zweiten Weltkriegs In Norwegen In ame rikanische Gefangenschaft und hauste je nach den damaligen Zufällen schlecht oder recht In einigen Lagern. Oberösterreich war ein begehrtes Ziel für Kriegs-Helmkehrer, well die Verhältnisse In der amerikanischen Besatzungszone verhältnismäßig erträglich waren. Es gelang Doderer, Im Jahre 1946 seine Entlassung in Richtung Oberöster reich zu lenken. Das ,,Grüne Buch" der ,,Tangenten" be ginnt am 3. Februar 1946 In Weißenbach am Attersee: ,,Der Januar, bis zum 28. des Monats noch Im Lager zu Darmstadt verbracht. Meß meine Kräfte In eine Art von Winterschlaf verslkkern. Es war ein von Innen her durchbre chendes Ruhebedürfnis, eine wirkliche Le thargie, was mich übermächtig umfing. Ich schien mit meinen Energien am Ende. Die Tatsache, einen ganzen Monat hindurch zu keiner schriftlichen Formulierung gelangt zu sein, berührt mich hintennach als unge wöhnlich und Ist doch unbestreitbar. Ich litt unter dem Zustande, aber zu brechen hab Ich Ihn nicht vermocht. Gegen Ende des Monates wurden wir aus unserem früher beschriebenen Quartiere geworfen und für ein paar Tage noch In Zel ten untergebracht. Am 28. ging's In die Waggons und, um's kurz zu machen, am Donnerstag, 31. Januar, wurde Ich zu Linz aus dem Gefangenenlager entlassen und habe fürs erste hier bei meinem Onkel, dem Bruder meines sei. Vaters, dem Herrn Ri chard Ritter von Doderer, In seinem schö nen Jagdhause zu Weißenbach am Attersee Zuflucht gefunden. (Ich hatte mich In We sermünde noch rechtzeitig In die von den Amerikanern besetzte Zone Österreichs umschreiben lassen, was sich Immer mehr als das Richtige erwies). Die Nacht vom 31. Januar auf den 1. Fe bruar schlief Ich zu Kammer beim Hofwirt erstmalig wieder seit 16. November In einem richtigen Bett, und In einem sehr guten so gar, für zehn Stunden kilometertief In den Schlaf versinkend. Und Freitag vormittags, während der zweistündigen Fahrt mit dem Dampfer von Kammer hierher, sah Ich zum ersten Male die herrliche Landschaft dieses Teiles von Österreich, der mir bis jetzt, wie durch eine merkwürdige Fügung, unbekannt und fremd geblieben war. . .
^rTfl Links: „Hier bin ich wie ein Sohn aufgenom men worden" - Viila der Familien Doderer/ Veranemann in der Ortschaft Forstamt, Wei ßenbach am Attersee. .T Rechts: ,,Noch herrschen Grau und Blau zwi schen den Bäumen, Strichzeichnung überwiegt die Farbe ..." - Blick auf den spätwinteriichen Aftersee von Weißenbach aus. Aber damit ist die Chronik nachgeholt und die Ordnung meiner Aufzeichnungen, de nen ja eine andere Absicht eignet, wieder hergestellt. Auf der Landungsbrücke ist mir mein Onkel entgegengekommen, gealtert (wie einst mein Vater, 1920, als ich ihn am Riegeihof wiedergesehen habe nach der Rückkehr aus Sibirien) - gealtert, aber immer noch schön; und das erste, was ich von ihm erfah ren habe, war das allerbeste: meine Mutter, gesund nach allem Schweren, mit meinen Schwestern auf dem Hofe in der Prein. Hier bin ich wie ein Sohn aufgenommen worden. Meine winterliche Heimkehr hat sich günsti ger gestaitet als ich zu hoffen wagte." Das Landschaftserlebnis Doderers umfangreiche Tagebuch-Medita tionen wenden sich nach einem Zitat Pius XII. (,,Die Gemeinschaft sollte nicht aufge rufen werden, etwas zu leisten, was Sache des Individuums ist!") politisch-philosophi schen Themen zu. Er berichtet über den Entschluß, die in Südfrankreich 1941 be gonnenen Aufzeichnungen in einen großen Roman einzubringen. Und dazwischen iugt plötzlich die Land schaft herein: ,,Der See schwappt und schlappt in seinem tiefen Becken, allenthalben um den Fuß des Berges sich wendend. Die Straße folgt in geduldigen Biegungen seinem Ufer. Dahin ter steigt das Terrain an, erst noch flacher. und da sitzen die schönen Bauernhöfe, nicht weit davon beginnt der Wald, mit einem stei len Anlauf bis zum Fuß der Wände, diese schießen fast unvermittelt (so sieht's von hier aus) ohne längere Geröilhalden in brei tem, mächtigem Schilde daraus hervor. Es ist ein Teil des Höllengebirges. Das Haus ist ein sehr bequemes, großes Jagdhaus, das aber heute mehrere Familien beherbergen muß." Einige Tage später: ,,Ein Wintertag hier an dem See zeigt schon im kleinen Ausschnitt meines Kammerfen sters eine ungeheuer weiträumige Welt der Nuancen - so in Strichzeichnung wie in Farbe innerhalb von Schwarz, Blau und Weiß." Nach diesen Impressionen vom Februar 1946 schiebt sich nach vielen, sprunghaft in ihrer Thematik angesetzten, aber stets tief durchdachten sprach- und staatsphiloso phischen Meditationen, mit denen Doderer seinen geistigen Standort gewann und absi cherte, anfangs April plötzlich wieder die Landschaft ins innere Erlebnisfeld. Am Attersee war es Frühling geworden. ,,Wir haben Frühling hier, der Zug um Zug das Explosive dieser Jahreszeit ins Treffen führt. Die hohen Berge, noch tief im Zucker, stechen in lackreine Himmel. Noch herr schen Grau und Blau zwischen den Bäu men, Strichzeichnung überwiegt die Farbe, nur am Boden tritt Gewächs dichter neben Gewächs, und am Bach herrscht mannigfal tiges Leben. Der See sieht tiefer aus, grün diger, dunkelfarbiger, dann und wann ein ultramariner Abgrund. Die Sonne greift Im Garten am späteren Nachmittage grüngold über den Rasen. Schon genießt man den Frieden und Reiz ländlich-familiären Nach mittagskaffees auf geräumiger Veranda. Das alles eben Ist's, wonach Ich mich den Winter über gesehnt habe aus Dunkel und Kälte der Massenquartiere In der Gefangen schaft. Wenn das dichter werdende Licht gegen Mittag den Garten erfüllt und die Sonne auf den geradezu heiß werdenden Veranden zur hauptspürbaren Wirklichkeit geworden ist, gleitet unten, kurz nach zwöl fe, der gemütlich tutende Dampfer vorbei und zum Landungsstege. Dies eben skiz zierte Bild stand durch sonnig-windlose Tage und Wochen." Dann die Schilderung des ersten Frühlings gewitters: ,,Heute abends fernes Gewitter hinter den Bergen und kurzer Regen. Wenn morgen die Sonne scheint, wird das Grün wuchern. Vom Himmel kam eine fächerförmige Strah len-Gloriole, zwischen die Wolkenkulissen einfallend und auf den im Winde wandern den See, der gegen das andere Ufer zu ei nem schmalen, gleißenden Streifen wies." Im Wahrnehmen von Farbnuancen, im zweimaligen Erwähnen einer ,,Strichzeich nung", in der ganzen Art der Betrachtung of fenbart sich hier beinahe das Auge eines Malers. Doderer nahm die Attersee-Landschaft wie ein Bild auf, er dachte in anderem Zusammenhang dabei auch an die Salzbur-
ger Aquarelle seines Freundes Albert Paris Gütersloh. Im Gegensatz zu Gustav Mahler, den die selbe Berg-See-Landschaft musikalisch in spirierte (Äußerung zu Bruno Walter ,,Das hab ich schon alles wegkomponiert!"), ver hielt sich Doderer jedoch nach wie vor litera risch distanziert. Das Tagebuch registriert Formprobieme der ,,Strudlhofstiege". Not und Hunger Sehr üppig scheinen die ,,ländlich-familiä ren Nachmittagskaffees" auf der Veranda nicht gewesen zu sein. Der Leser des Tage buchs wird jäh aus der Ästhetik gerissen und mit der Wirklichkeit jener Nachkriegsmonate konfrontiert. ,,Heute (17. April) konnte ich eine bemer kenswerte Beobachtung in bezug auf den Hunger machen. Beim Hoizspalten, nach etwa einer und einer Viertelstunde - die Ar beit machte mir Spaß, ging gut von der Hand und ich bezwang die verdrehtesten und knorrigsten Blöcke - packte mich plötzlich, ohne geringste Ermüdung, ein Heißhunger wie mit Krallen in der Magengrube, derge stalt, daß meine Knie weich wurden und mir der Schweiß ausbrach. Hätf ich einen Keil Brot haben können in diesem Augenblick, die Arbeit wäre leicht noch eine oder die an dere Stunde ohne Ermüdung fortzusetzen gewesen. So aber klappte ich gleichsam über meinem leeren Magen zusammen und blieb stehn wie eine Maschine, der bei feh lerlosem Getriebe einfach das Feuer unter dem Kessel erlischt. Mir wurde vor Hunger übel. Glücklicherweise hatte ich zwei Sem meln gekauft von meinen letzten Marken der Zusatzkarte, eine hab' ich verschlungen, mir wurde etwas besser. Leicht versteh' ich jetzt so manches, was man in der Zeitung liest, von Leuten, die in Wien infolge Hungers zu sammenbrechen und dergleichen mehr. Was nützt mir bei der Arbeit meine gute Muskulatur, die keine Müdigkeit empfindet, wenn plötzlich sozusagen der Strom für die sen Motor abgeschaltet wird? Nein, bei der ganzen Kalorienwirtschaft und Kalorien weisheit werden wir hierzulande nicht weit kommen. In Wien gedenke ich so unbeweg lich zu leben wie nur immer möglich, in der Art eines Reptils." Doch am gleichen Tag noch ein Aufbiick ins Land; ,,Die Kirschblüte ist geplatzt. Wie Explo sionswolken stehn da und dort im dichteren Grün die zuckrig-weißen Baumkronen." Zur Erklärung der Hunger-Episode, die einer der seltenen Fälle ist, in denen Dode rer über körperliches Leid klagt, wäre zum 19. Februar zurückzubiättern, an dem das Elend jener Tage sehr realistisch, aber mit einem Anflug von Ironie, durchbricht; ,,lch bin natürlich hier vielfach gestört, ich drück' mich mit meiner Arbeit herum, wo ge rade ein wenig Ruhe herrscht oder Wärme oder wo ein Tisch frei ist, aber im großen und ganzen geht's mir doch recht gut. Der Man gel an Zigaretten ist ein empfindliches Lei den. Sonntags kann ich die hl. Messe in der süßen kleinen Dorfkirche besuchen. Was mich quält, ist der Umstand, daß ich keine Erwerbsarbeit ohne weiteres suchen kann; ich hab' nur ein Paar Halbschuhe, was fang ich mit denen im Freien an, bei Schnee und Nässe, wie sie jetzt herrschen - und meine Stiefel sind beim Schuster und werden dort wochenlang sein. Am Arbeitsamt läuft meine Freisteilung mit 10. März ab. Der Be amte dort, ein Herr Kammerhuber, als ich ihm sagte, ich sei Schriftsteiler, deutete mir "" ' if «
höflich und in verhüllter Form an, daß sich so jeder nennen könne, auch einer, der .ir gendwann einmal irgendeine Kleinigkeit ge schrieben habe' und ,wir wollen doch nur Leute freistellen, die wirklich an etwas arbei ten'. Nun ja, ich habe nach Wien um Pinsel geschrieben, da ich mich hier in eine Haus industrie einstellen lassen könnte: Bemalen von Dominosteinen mit allerlei österreichi schen Emblemen und Motiven, für die Ame rikaner. Aber von selten meiner Wiener Freunde hat sich bisher nichts gerührt - ob gleich Post aus Wien längst hier sein könnte - außer einem Telegramm, das allerdings die wichtige Nachricht gebracht hat, meine Sachen seien erhalten. Hoffentlich sind un ter ,Sachen' vor allem auch die Manuskripte zu verstehen. Sie befanden sich zuletzt in Siegenfeld, das in der Badener Gegend liegt." Zwei Äußerungen aus der Osterzeit 1946 noch, um diesen Erlebniskomplex abzu runden: ,,Das Wetter plötzlich verhangen und trüb, grau, tiefverhüllt. Ein nicht willkommener Besuch kündigt sich an, aus jener von Prätentionen gestreckten und mit Pfiffigkeit all zeit gut eingedeckten Welt bürgerlich-ge sellschaftlicher Akademiker, aus der mir noch nie Gutes gekommen ist." ,,Dienstag nach Ostern brach schlechtes Wetter ein, dasselbe, welches den Karfrei tag gekennzeichnet hatte: Nebel und Re gen. Also standen die Ostertage wie eine strahlende Insel oder Oase im unmittelbar ihnen nachfolgenden Gedächtnis, im Nach klang, eine leuchtende Burg, die aus dem vorhergehenden und folgenden Gewölk ragt. Indessen ist das Wetter wieder ganz ausgeheitert. Anderes ist weniger gut. Seit Dienstag ohne Zigaretten und zu essen hab' ich auch nichts mehr, die paar Semmeln von meiner Zusatzkarte sind verbraucht." Osterfest am Attersee Die Bedeutung des Osterfestes in der deut schen Literatur ist zwar durch Goethes ,,Faust" vorgeprägt. Nichts davon reflektiert Heimito von Doderer zu seinem ersten Frie dens-Ostern in Oberösterreich. Er erlebt diese Ostern vielmehr auf eine beeindrukkend katholische Weise, die geradezu symptomatisch für eine gewisse Heilkraft der Liturgie ist. In einer bis dato ausständi gen Untersuchung über religiöse Elemente im Leben und Werk Doderers wären diese Tagebuchstellen wichtig: ,,Das Hochamt dauerte ein und eine halbe Stunde und in der kleinen Steinbacher Kir che drinnen war es fast so schön wie drau ßen im Freien. Dem amtierenden Priester lag die Sonne auf den Schultern, sie legte sich durch den Dampf von Weihrauch. Es wurde tüchtig musiziert. Pastoral-Messe von Franz Reisinger in 0 und G und Tantum ergo - beides ländlich-österreichisch, mit heiterem Gloria und Reminiszenzen oder Assonanzen an Beethovens Sechste. Die ser Osterspaziergang nach Steinbach hin und zurück betäubte fast durch seine Schönheit. Wohin zuerst schauen? Der blaue See, rein wie Lack. Oh, noch reinerer Schnee-Zucker auf den hohen Bergen! Hin ter den Blüten-Wolken der Bäume die breite, feste, harmonische Front eines alten ober österreichischen Bauernhofs." Durchaus dem religiösen Erleben zuzuord nen ist jedoch auch der Höhepunkt unter ...Ä
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