Oberösterreich, 26. Jahrgang, Heft 4, 1976

\\\X op. 1 Gebirgige Landschaft, Probedruck II. Zustand, Radierung 1913 'g i«iä dien des Druckverfahrens zeigten. Carl Anton Reichel schuf uns Platz und wir besahen nun mit steigender Bewunderung aber auch Ver wunderung die Blätter, die er nach eigener Zeichnung oder nach flüchtigem Entwurf aus nahmslos selbst auf die Platte übertrug und zumeist auch selbst in der Druckpresse ver vielfältigte, doch mit wohlberechneter Absicht nie in großer Zahl. So behielten seine Radie rungen Seltenheitswert und waren von Samm lern und Museen gesucht und gut bezahlt, zumal er sie nicht auf den Markt bringen ließ und auch selten auf Ausstellungen zeigte. Was wir zuerst zu sehen bekamen, waren geistvoll gezeichnete Porträts, Persönlichkei ten von öffentlichem Ansehen darunter, dann weibliche Aktstudien, die starke Sinnlichkeit ausstrahlend einen feinen, ja raffinierten Ge schmack bekundeten. Diesen folgten nun an dere Blätter, die der Künstler seine ,über determinierten' nannte und mit denen ich vor erst wie mit blauen Wundern auch schon gar nichts anzufangen wußte. Ich pflege mich Kunstwerken gegenüber, wenn sie mir nicht gleich einleuchten, vorsichtig zu verhalten zum Unterschied von Leuten, die ihre Ablehnung sogleich mit großer Sicherheit äußern, als sei Ihr Geschmack und ihre Auffassungsgabe die allein maßgebende. Wer an sich erlebt hat, wie es einem vor einem lange unverstandenen Kunstwerk plötzlich wie Schuppen von den Augen fallen kann - es müssen das nicht Immer Bilder sein, auch vor Dichtungen kann sich das innere Auge öffnen - der wird be scheidener. Diese Radierungen unseres Gast gebers sind schwer zu beschreiben. Keine zeigte noch menschliche Gestalten oder doch nur Andeutungen und Teile von solchen, etwa gesichtsähnliche Umrisse mit mund- und augenartigen Merkmalen, doch da kam es zum Beispiel vor, daß ein Auge ausrann und aller lei sonderbare Dinge aus ihm flössen; oder daß eine eben annähernd menschliche Gestalt nach unten gemauert war oder In eine ge- ^ipi birgsartige Formation verlief. Und immer gin gen solche unelgentllch anthropomorphe oder auch tierähnllche Gestalten und Gestalten gruppen in eine uneigentliche Landschaft hin tergründig über, Gegenden, die in ihrem Dämmerlicht etwas Unterwelthaftes und gleich den Gestalten Gespenstisches, oft auch wie der entfernte Ähnlichkeit mit unheimlich leben den Wesen hatten. Auch betitelt waren diese Blätter, und zwar trugen sie geheimnisvolle Namen philosophischer oder mythischer Be griffe wie etwa ,Apokatharsis' oder die per sischer und indischer Gottheiten und Dämo nen aus dem Laien nicht genauer erinner lichen fabelhaften Vorgängen und Begeben heiten, zuweilen aber auch aus näherllegenden Begriffskrelsen wie der hellenischen und nordischen Sage oder der Bibel. Dann kamen wieder Zeichnungen, die nur aus einem Ge wirr von Linien bestanden, doch aus einem seltsam musikalischen, irgendwie sogar schö nen und angenehm wirkenden, das muß man gestehen, und solche trugen dann auch fast verständlich musikalische Benennungen wie etwa: ,Zu Mahlers Lied von der Erde', oder ,Bach-Motette', oder andere Titel mehr weni ger bekannter Musikwerke. Allen diesen .überdeterminierten' Kunstgebil den war gemeinsam ein Geisterhaftes, das auf schlichten Verstand und normales Emp finden unbehaglich wirkte, und der Mensch, der gewohntermaßen nur seinen fünf Sinnen traute, mochte sich vorstellen, daß etwa Unge borene oder Verstorbene oder niemals Ge stalt gewordene dämonische Wesen die Dinge so sehen könnten. Ja, für eine feine Witte rung war in manchen etwas wie Verwesung zu spüren, und man legte sie Irgendwie pein lich angeschauert wieder aus der Hand." Es ist keine Frage, daß es schwierig ist, diese grafische Sprache eines Meisters der Radierung und der Zeichnung im logischen Wort, wie es hier geschehen soll, zu erfassen, schließlich schon des wegen, weil diese asiatische Geisteswelt uns fern liegt. Andererseits hat sich der inzwischen verstorbene Neffe des Künst lers, Dr. Ernest C. Reichel, einmal in einem Brief vom 14. April 1970 auch über die Technik dieser Blätter so ausge drückt, daß es ihm völlig unerklärlich sei, daß ein Mensch von der Vitalität und Macht (als Persönlichkeit gesehen) Carl Anton Reichels so unendlich feine Linien ziehen konnte und das mit der Nadel auf Kupfer- oder Zinkplatten oder mit dem Silber- und Goldstift auf Kreide oder mit dem Bleistift auf Papier. Immerhin sei es, anknüpfend an die Be merkungen Hammersteins, an Hand eini ger Blätter, lauter Radierungen, gewagt, sie von ihrem Titel her in ihrem Sinn zu erfassen. Op. 53, das Blatt ,,Gespenster". Da liegt eine Schlafende, die gute Frau steht an ihrem Bett, sie zu behüten, denn im Hin tergrund über die Berge hereinschauend lauert der Teufel. Viele Linien verwirren den Beschauer, aber nach längerer Be trachtung findet er sich zurecht, kann sich zurechtfinden. Es ist eine Zusammen schau notwendig, Reichel nennt sie Aphel, den Punkt eines Körpers, in dem er dem Hauptkörper am nächsten oder am fernsten ist, also sowohl seine geistig kosmische wie seine real plastische Er fassung. Weil alle diese Blätter meist leicht getönt sind, ist der Vorschlag, sie durch einen besonders konstruierten Bildwerfer auf eine Bildwand zu projizieren, gleichsam ein Reichel-Epidiaskop beim Anschauen dieser Blätter zu ver wenden, nicht abwegig. Im Zeitalter einer

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