Bildende Kunst Carl Anton Reichel — ein Künstlerleben im Geisteswandel des20.Jahrhunderts Carl Hans Watzinger Am 5. April 1874 wurde er in Wels gebo ren, der älteste von drei Sötinen aus angesetiener, begüterter Kaufmannsfami lie. Ihn trieb es, wie später seinen jüng sten Bruder Heinrich, der ein berühmter Hygieniker wurde, zum Studium der Me dizin. Nach acht Semestern an der Wie ner Alma Mater Rudolfina wandte er sich aber der Kunstgeschichte und Psycholo gie zu, ging auf Reisen, heiratete in eine russische Adelsfamilie namens Dolmatow ein. Der Geist des Ostens, Chinas und Tibets, beschäftigte ihn, ein Studium, das sich dann in seinen Radierungen nieder schlagen sollte. Zuerst aber begann er Holzschnitte, kolorierte Akte, zu machen, die ihm rasch einen Namen als bilden dem Künstler einbrachten. Autodidaktisch bildete er sich als Gra fiker weiter. Seine ersten Radierungen entstanden 1900, aber erst 1913 fing er an, sie zu zählen. Sie sind bis 1944 auf 328 Blätter angewachsen. Wahrscheinlich hat er aber eine größere Anzahl geschaf fen. Hauptsächlich hat er sie, vor allem die Kaltnadelradierungen auf Zinkplatten, zwischen 1913 und 1915 bzw. 1921 her ausgebracht. Das war die Zeit, da er Besitzer des Edelhofes in Micheldorf, heute Edelhofstraße 14, war. Die dortigen Räume im weitläufigen Haus sind im großen und ganzen unverändert, man weiß noch, wo er die Pressen für die Her stellung seiner Blätter stehen hatte. Die Fassade des schönen Hauses ist um gestaltet worden, das heißt, es fehlt jetzt der laubenartige Vorbau aus Holz. Nicht von ungefähr mag es gekommen sein, daß sich Carl Anton Reichel in Micheldorf nächst Kirchdorf angesiedelt hat. Dem Kremstal mit seinen Sensen werken hat seit je, wie allen eisenverar beitenden Orten, man denke nur an Steyr, eine Aura innegewohnt, die aufs engste mit einer höheren Kulturstufe der Menschheit im Zusammenhang steht, und noch heute spürt man sie. Etwas Geheim nisvolles liegt in der Gewinnung des Eisens aus der Erde. Als Erz, vermischt mit anderen Stoffen, wird es im Schmelz ofen durch das Feuer geläutert, gereinigt, und noch als metallener Werkstoff hängt ihm Besonderes an. Der fertige Werkstoff muß ja nicht eine mordende Waffe sein, sondern kann auch dem Friedlichen, ja Erhabenen, so zum Beispiel zur Dekora tion der Häuser mit wunderschönen Fen sterkörben oder Stiegengeländern die nen. Zur Erinnerung an die Toten können es handgeschmiedete Kreuze sein, die sich über die Grabhügel erheben; immer auch alles zweckmäßig und nicht nur Zier. Und so hat sich gerade in Michel dorf jahrhundertelang eine patriarchali sche Sensenindustrie erhalten, die sich wiederum in der Architektur, ja in der Lebensart der alten Sensengewerken und ihrer Mitarbeiter in Tracht und Brauchtum ausgewirkt hat. Man begegnet ihr noch heute in den Wohnungen der Nachkom men dieser Sensenwerkbesitzer. Sensen werden keine mehr erzeugt. Eine ganze Gegend wurde so zu einer Kultur landschaft, man nannte sie Eisenwurzen, an der nicht etwa nur die Steiermark und Niederösterreich Anteil haben, sondern ebenso das oberösterreichische Kremstal. Auch der Edelhof in Micheldorf, man hat ihn früher Erlenhof genannt, war einmal ein Sensenwerk, der Obere Absang, ein Wort, das von Absanger herkommt und soviel wie urbar gemachte Au bedeutet. Später hieß das Werk Unterhaindl oder Untere Kaltenprunner Werkstatt. Angeb lich wurde diese Sensenschmiede schon 1616 gegründet. Die Holzinger betrieben sie. Von ihnen stammen andere bekannte Sensengewerksfamilien ab, so die Redtenbacher, die Weinmeister, auch die Kal tenprunner und die Melcherl,oder sie sind mit ihnen durch Heirat verwandt gewor den. Selbst auf die Pulvermacher ging die Sippe über, als die Pulvermachers tochter Rosine Kiendler einen Kalten prunner heiratete. Das Schwarzpulver werk besteht heute noch da, wo man die Gegend nächst Kremsursprung „In der Krems" nennt. Durch einen schweren Betriebsunfall, der zwei Menschenleben kostete, hat es in diesem Jahr wieder Schlagzeilen in der österreichischen Presse gemacht. Auf diesen Edelhof mit großer Vergan genheit — nicht von ungefähr nannte man die Sensenwerkbesitzer wie die steirischen Eisenerzeuger und Hammerherren ,,die schwarzen Grafen" — saß nun Carl Anton Reichel, nachdem er sich in der weiten Welt umgetan hatte, von unruhi gem Blut gedrängt und mit nur selten aus Kaufmannsgeschlechtern kommenden Gaben bedacht; denn auch ein anderer Zeitgenosse aus gleicher Abstammung, Thomas Mann, um noch ein Beispiel zu nennen, hat sie nicht in dem Maße be sessen wie dieser Welser Bürgersohn. Lassen wir Hans von Hammerstein, den Dichter, sprechen, der zum — freilich sehr kritischen — Bekanntenkreis Reichels ge zählt hat, nicht nur ein bedeutender schöpferischer Geist, sondern auch einer, der in die Menschen hineinsehen und ihre Stärken und Schwächen nüchtern abwägen konnte. Diese Charakteristik Reichels durch Hammerstein, die vom Äußeren auf das Innere des bildenden Künstlers schließen läßt, stammt aus den noch unveröffentlichten Schriften des Dichters und wird hier wie alle übrigen Zitate Hammersteins zum erstenmal ver öffentlicht. (Hammerstein ist 1947 gestor ben und liegt auf dem Friedhof von Kirch dorf begraben. In diesem Herbst hätte er sein 95. Lebensjahr vollendet.) ,,lch betrachtete sein Gesicht, vertiefte mich in seine Züge. Diese waren sehr regelmäßig, man konnte sagen: ein schöner Kopf. Die Stirne hoch, denkerisch und von reiner Kiarheit. Fast keine Augenbrauen. Die Augen, dieses vieileicht Auffäiligste in seinem Antlitz, ihr Bück konnte etwas sehr Lauerndes, in der Beobachtung Einsaugendes haben, und dann mit schon unnatürlich hochgezogenen Lidern nahm er zuweiien den Ausdruck des in die Ferne und zugieich in sich Hineinschauens, ais des Seherischen an, wobei er oft ins Glasige erstarrte. Dem konnte freilich auch wilikürlich geboten werden, um Eindruck und Theater zu machen. Er behauptete, jene über determinierten Bilder im Zustand der Trance zu zeichnen, meist ums Morgengrauen, wenn andere Leute zu schiafen pfiegen und seine Gäste, die er gern so iange hielt — und die sich, wie wir erfahren soliten, gern oder un gern so lange halten ließen — das Haus ver lassen hatten, und da zumeist sie wie er selbst leicht alkoholisiert. Daß er gern eins trank, bewies schon die reichhaltige Garnitur von allerhand gebrannten Tränken, die im Eßzimmer seinen Platz umstand und aus der er ohne Unterlaß anzubieten und einzuschen ken pflegte. Doch wies sein Gesicht keine Spur alkoholischer Zerrüttung auf. Die Nase war lang, schmal und gut gezeichnet. Nur der Mund — ja, dieser dünne Mund, der gern die schmalen, fast farblosen Lippen aufeinander preßte, er war unschön, nicht in der Formung, aber im Ausdruck, er war stets bereit, zu höhnen, geringzuschätzen, und großer Härte, vielleicht auch der List und Tücke fähig. Und wenn er im schmalen, dann sonderbar und schier hundeähnlich hochgezogenen Winkel scharf die Luft einzog, enthüllte er sogar was wie einen bösartigen Schulmeister." Hans von Hammerstein spricht von ,,überdeterminierten" Bildern. Das be darf einer Erklärung. Der Dichter gibt sie an anderer Stelle seiner Schrift über Reichel. „Carl Anton Reichel führte uns nach dem Tee über den Vorplatz in einen kleinen Raum, den er als Werkstatt bezeichnete. Denn auf meine komplimentierende Bemerkung, er sei doch, wie ich gehört, ein Künstler, insonders nam hafter Meister des Grabstichels, hatte er, scharf die Luft einziehend, geantwortet: aller dings, das sei auch ,eine seiner Masken'. Der Tisch und die wenigen Sitzgelegenheiten in diesem Geiaß waren hoch bedeckt mit unge ordneten Stößen schönen rauhen Schöpf papiers in verschiedenen Formatschnitten, deren viele Radierungen in gewissen Sta-
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