Oberösterreich, 26. Jahrgang, Heft 1, 1976

Oberösterreich und die Geschichte des gotischen Fiügeiaitares Wilfried Lipp Ein Thema, begrenzt und weit zugleich: Erster Gedanke — in diesem Jahr stärker und vorbereiteter einschießend als sonst — St. Wolfgang, Michael Pachers Werk. Daneben Kefermarkt, noch immer vom Zauber seines rätselhaften Ursprungs umhüllt. Aber wie oft ist es auch hier das Untypische, weiches das Maß bestimmt. Zwischen den beiden Waagschalen Sankt Wolfgang und Kefermarkt scheint ande res ungewichtig. Es hieße aber mit fal schen Gewichten messen, wollte man die Einzigartigkeit an der breiten Fülle eines Landes abwiegen. Und außerdem gilt es das Fragmenta rische, das Bruchstückhafte des überlie ferten Bestandes zu bedenkenh Welche Berge von Gotik, wieviel von den mittel alterlichen Sinnbezügen der Heilserwartung^ ging mit den Altären dahin! Ein Beispiel vor Augen: Oberösterreich be sitzt noch immer über 400 gotische bzw. im Kern gotische Sakralbauten^. Archi tektur widersteht den Fährnissen der Ge schichte mehr als Bild- und Malwerk und so kann die Zahl als kleinste Basis be trachtet werden. Man kann mit gutem Grund annehmen, daß fast in jeder dieser Kirchen ein oder mehrere gotische Altäre waren". Dazu kamen Altäre in den Kapei len der Burgen und Schlösser, den Land kapellen und Häusern vornehmer Bürger. Aus dieser Fülle blieb ein schmaler Rest bis auf heute tradiert. Die hohe Qualität des Besten und das zuweilen bäurisch Derbe der übers Land verbreiteten Altar werke lassen immerhin eine Ahnung der ursprünglichen Situation zu. Der überlieferte Bestand gotischer Altäre in Oberösterreich gehört fast ausnahms los dem Typus des Flügeiretabels an. Es soll daher Entstehung, Verbreitung und Bedeutung dieses in Oberösterreich in so bedeutenden Werken kristallisierenden Typs im Zentrum dieses Beitrags stehenT Unter Fiügeiaitar versteht man ein mit seitlichem(n) Flügel(n) versehenes, daher mindestens zwei-, in der Regel dreiteili ges Retabel. Die beweglichen Seiten flügel können geöffnet und geschlossen werden. Die Retabel können entweder nur gemalt oder nur geschnitzt sein, die häufigste Form ist jedoch eine Verbin dung von Malerei und Plastik, wobei der Mittelteil (Schrein) zur Aufnahme plasti scher Teile bevorzugt wird. Die Anzahl der Flügel kann durch Teilung bzw. Kop pelung verdoppelt werden, was zusam men mit der Gliederung in sich eine mannigfaltige Gestaltungsmögiichkeit er gibt. Predella-Untersatz und GesprengeSt. Wolfgang, Pfarrkirche, gotischer Flügelaltar von Michael Rächer, Kopf Marlens aus der Schreingruppe Krönung Maria. Sämtliche Fotos dieses Aufsatzes: Max Elersebner Aufsatz ergeben ein Feld künstlerischer und programmatischer Erweiterung. Die Verbreitung dieses Typus' hat seinen Schwerpunkt in Deutschland und Öster reich (einschließlich Südtiroi), der Schweiz, Belgien und Skandinavien. In den romanischen Ländern blieb der Fiü geiaitar meist nur importierte Ausnahme erscheinung. Herrscht in Italien der Typus des architektonisch aufgebauten Retabels bei weitem vor, so liegt in Spa nien der Schwerpunkt der Verbreitung beim Tafeiretabei. Immerhin aber ent standen in Spanien — angeregt durch eingeführte Fiügelaitäre — auch wenige bedeutende Retabel dieses Typs, etwa das Hochaltarretabel von Toledo oder jenes der Kathedrale von Tortosa, das aber eine Mischform, ein architektonisch aufgebautes, mit Flügeln ausgestattetes Altarwerk darstellt. Frankreich bietet hinsichtlich der Verbrei tung der Fiügelaitäre ein unterschiedli ches Bild: Ist der Typus im Zentrum und und im Süden des Landes nur wenig ver treten, also im Kernland der lle de France, im südlichen Burgund und der Provence, so sind Fiügelaitäre im Nor den, Nordosten und Westen verbreitet. Vielfach sind englische und flämische Künstler Urheber solcher Altäre. Von einem Flamen namens Jacob de Baerze stammen auch die beiden sehr bedeuten den und frühen geschnitzten Fiügeiretabel, die für Philipp den Kühnen 1391 für die Kartause Champmol ies Dijon geschaffen wurden (heute Museum Dijon). Die französischen Fiügelaitäre sind ohne Predella und Bekrönung, die Flügel in der Regel nur bemalt, im Ge gensatz zu den plastischen Bildwerken des Mittelteils. In zahlreichen Museen Frankreichs haben sich auch noch typische englische Aiabasterretabel mit Flügeln, meist schlichte, durch Leisten gegliederte Bildertafein, erhalten. Von der Peripherie langsam näher zur Mitte: In Österreich, Deutschland und der Schweiz, aber auch im Westen und Nor den Europas herrscht das Fiügeiretabei bei weitem vor und wird im späten Mit telalter der vorwiegende Typus, der die anderen Formen des Retabels nahezu ganz verdrängte. Aus diesem Kernbereich des gotischen Fiügeiaitares hat sich eine große Zahl von Retabeln bis heute erhalten. Nach einer Aufsteilung bei Braun' sind es allein in Deutschland über 1700 (I), in Österreich 350', in der Schweiz 70. Diese Zahlen berücksichtigen großteils nur weitgehend vollständig erhaltene Be stände. Flämische Retabei waren über weite Teile Europas verbreitet, beson ders aber in den angrenzenden Rheinianden und Westfalen. 160 Altäre dieser Provenienz sind statistisch erfaßt. Zur Eigenart der Fiügelaitäre in diesem mitteleuropäischen Kernbereich zählt die Ausbildung einer Predella, die ab dem 15. Jahrhundert mit zum üblichen Auf bau gehörte. Vielfach ragt — die österrei chischen Beispiele zeigen dies — dieser Untersatz seitlich über den Mittelteil hin aus, um bei geschlossenen Flügeln als Aufsatz von Standflügeln oder als Figu renpodest zu wirken. Der Körper des Retabels (das Mittelstück) wurde nur in seltenen Fällen als architektonisch auf-

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