Oberösterreich, 25. Jahrgang, Heft 3, 1975

Wirtschaft und Brauchtum Der Arbeiter im Strukturwandel Helene Grünn In den letzten Jahrzehnten konnte man beobachten, daß sich beim Fabriksarbei ter eine größere Wandlung zu vollziehen begann. Allmählich wurde aus dem un gelernten Arbeiter ein gelernter, ein durch Ausbildung geschulter Facharbei ter, der aus der Gruppe der Hilfsarbeiter in eine gehobene Schichte aufstieg. Der Facharbeiter bleibt, im Gegensatz zum Hilfsarbeiter, der häufiger den Arbeits platz wechselt und nur wenig Bindung zum Werk und zu dem Werkstück, an dem er mitarbeitete, hat, ,,seinem" Be trieb treu und richtet sich daher auch in seiner Umgebung häuslich ein. Wenn im folgenden vom Fabriksarbeiter die Rede ist, Ist ein solcher Landsmann gemeint, der in der Gemeinschaft seines Betriebes ein vollwertiges Mitglied ist, der die Ar beit in seinem Lebensbereich ebenso positiv sieht wie etwa der Bauer oder Handwerker. Das sich im Werksbereich entwickelnde Arbeiterbrauchtum kann daher ebenso als vollzogene Lebens ordnung gewertet werden. Am Beispiel der VÖEST, die 1973 mit der Alpine fusioniert und damit zu einem beachtlichen Stahlunternehmen in der Weltrangliste wurde, das mehr als 75.000 Menschen beschäftigt, sollen einige Er scheinungen dazu aufgezeigt werden. Vieles im Verhalten der Arbeiter in Linz ist aus der Notzeit des verlorenen Krie ges und der Nachkriegszelt zu erklären. Die VÖEST war ein junges Unternehmen, das durch den zweiten Weltkrieg in der Entwicklung zurückgeworfen wurde und nach dem Krieg wieder neu beginnen mußte. Die Belegschaft war zusammengewürfelt aus den verschiedensten Betrieben der Steiermark, Kärntens, Niederösterreichs und Schlesiens. Oft waren es geschlos sene Gruppen aus ehemaligen traditions bewußten Bergbau- und Hüttenbetrieben, die sich zu neuem Beginn einfanden. Im Laufe der letzten Jahre kamen aber auch einzelne, deren handwerklicher Beruf der neuen Zeit zum Opfer fiel, und Bauern söhne, die in der Landwirtschaft nicht mehr tätig sein wollten und oft auch nicht konnten. Viele dieser ,,Zugewan derten" sind durch den Krieg und auch durch die Verlagerung ihrer Betriebe in Linz geblieben. Eine andere große Zahl der Arbeiter sind ,,Pendler", die durch ihre Familien noch im Landleben, Im kleinstädtischen oder dörflichen Bereich verankert, wohl unbewußt in einer noch starken Überlieferungswelt leben. Neben den Belegschaftsmitglledern, die Ihren Arbeltsplatz oft wechseln und dadurch zum Werk keine Bindung haben können, gibt es auch solche „vom Land", die in der ersten Generation in der Stadt leben und Ihren Verdienst in einer Fabrik su chen. Meist wollen sie möglichst wenig mit ihrer Vergangenheit zu tun haben, fliehen dem alten Zwang, geben sich städtisch und sehr modern und können sich oftmals nur allmählich in die Ge meinschaft einfügen. In den Anziehungs bereich der Industriezentren gelangen seit langem auch Angehörige fremder Völker In großer Zahl. Sie entstammen anderen Traditionsberelchen. Alle diese Gruppen zusammen bilden die Arbeiterschaft In den Betrieben. Als Gemeinschaft führen sie ein Eigenleben mit vielen Beweisen kameradschaftlicher Haltung, von gegenseitiger Achtung und Rücksicht getragen. Denn viele von ihnen leben und arbeiten gefährlich. Sie neh men Anteil an den Festen des Lebens ihrer Kameraden. Sie siedeln gemeinsam, huldigen dem Werkssport, sind stolz auf ihre guten Sportsmannschaften und auf ihre schmucke Werksmusik. Viele von ihnen sind aber auch stolz auf ihr mo dernes Werk, an dessen Aufbau sie mit gearbeitet haben. Diese Arbeiter bauen in gemeinsamer Arbeit ein Werkstück, montieren eine Brücke, errichten in fer nen Ländern Fabriksanlagen und bleiben doch mit dem Mutterwerk in enger Ver bindung. Und diese Belegschaft hat es bewiesen, daß sie auch in Notzeiten zusammenhalten kann. Die Bindung vom Arbeiter zu seinem Werk vollzieht sich im allgemeinen all mählich. Leichter hat es nun die jüngere Generation, die über Lehre und Ausbil dung in das Werksleben und In verant wortungsvolle Stellen hineinwachsen konnte. Entwickelt sich der Betrieb wirt schaftlich gut, kann die Verbundenheit von Werk und Belegschaft spontaner ent stehen. Immer mehr Spezialbetriebe wur den eingerichtet. War wieder eine Anlage zur Inbetriebnahme fertiggestellt, fand man sich zu einer Werksfeier, einer Art Gleichenfeier oder Richtfest, zusammen. Der komplexe Brauch des Richtfestes entsteht aus der ,,Arbeitsabschlußver ehrung". Diese sind benannt nach dem Essen und Trinken, das ursprünglich bei Arbeitsabschlüssen gegeben, später in Geld abgelöst wurde. Im Werk, zum letzten Akt, versammeln sich mit der Generaldlrektlon Ingenieure, Betriebslei ter, Meister, Monteure, Arbeiter und Hilfs arbeiter sowie die Gäste, die je nach der Bedeutung des Objektes auch Regie rungsmitglieder, Wirtschaftsexperten,

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