Volksbildung Lieder im Leben der Leute Ein Versuch zur Erfassung des Liedbestandes der Gegenwart Rudoif Fochier Ich hatte mich in einem Mühiviertier Gasthof für ein paar Tage einquartiert. Unten die gefäiiige, saubere Gaststube, im ersten Stock mein Zimmer, mit aiien Einrichtungen und Anlagen, wie man sie eben heutzutage erwartet. Das wird hier erwähnt, damit nicht der Eindruck ent stehe, es handle sich um eines jener äiteren Modelle unter ländlichen Wirts häusern, in denen angeblich nur noch volkskundliche Beobachtungen gemacht werden können. Mein erwähnter Auf enthalt hatte allerdings mit solchen An liegen nichts zu tun. Eines Abends horchte und sah ich ein paar jüngeren Männern zu, die an einem Ecktisch saßen und Karten spielten. Nach und nach fand sich eine zweite Runde ein und auch die unerläßlichen Kiebitze geseilten sich hinzu. Im Grunde genommen verhielten sie sich für Kartenspieier äußerst ruhig und nichts deutete auf eine Änderung dieser Situation, auf jene bemerkens werte Beobachtung hin, die ich einige Zeit später, in meinem Zimmer droben während des Lesens, machen sollte. Es mußte gegen elf Uhr nachts gewesen sein, als ein ruhiger Gesang aus der Gaststube zu mir heraufdrang. Die Sän ger waren die jungen Kartenspieler von vorhin, die sich nun endlich unter sich fühlten und aus sich herausgehen konn ten, ohne — wie sie vielleicht meinen mochten — von mir, dem Fremden, be lächelt zu werden. Dieser Vorgang an einem ganz gewöhnlichen Wochentag abend mag im allgemeinen nichts Beson deres an sich haben. Nicht so für unsereinen, der an allen Erscheinungen des gegenwärtigen Volkslebens Immer inter essiert ist. Mein Erstaunen wuchs, denn die Burschen sangen nun fast schon eine Stunde lang und immer wieder wurde ein anderes Lied angestimmt. So ergab sich ein staunenswert buntes ,,Programm", das Mühiviertier und andere Mundart lieder und Jodler ebenso umfaßte, wie solche, die man vor ein paar Jahren noch in der Schule gelernt hatte. Die Burschen stimmten freilich auch Ge sänge an, die ihre Väter beim Militär, während des Krieges gesungen haben mochten: es reihten sich Trinklieder, Gstanzeln, Liebeslieder, Schlager und ein paar unvermeidliche Schnulzen an. Warum ich diese Beobachtung so wichtig finde und sogar niederschreibe, mag zu nächst mit dem knappen Hinweis be gründet sein, daß man so häufig die Klage hört, es werde nicht mehr gesun gen, weil Grammophon und Radio samt deren legitimen Nachfahren, wie sie Recorder, Musikbox, Transistorgeräte u. a. m. darstellen, die Sänger längst mundtot gemacht hätten. Erfreulicherweise besteht dieser Vorwurf aber nicht zu Recht. Das geschilderte Bei spiel hatte mich auf den Gedanken ge bracht, eben diese Seite unserer gegen wärtigen Volkskultur doch einmal unter die Lupe zu nehmen. Es ging und geht mir dabei nicht um die vielen Veranstal tungen im Lande, bei denen gesungen, musiziert und getanzt wird. So sehr alle aufrichtigen Bemühungen um die Volksliederpfiege zu begrüßen sind, drängt es mich seitdem danach, wenigstens an nähernd zu erfahren, was denn von den Leuten zur eigenen Lust und Freude ge sungen wird. Also um das Singen geht es hier, nicht ums Vor-Singen. In diesem Falle hat nämlich das Lied seine ur sprüngliche Funktion, d. h. Brauch einer Gemeinschaft zu sein, wohl gewechselt, aber noch lange nicht verloren. Nun wäre es zweifellos recht interessant zu erfahren, was gleichsam im „inoffi ziellen" Teil eines Zusammenseins heut zutage so gesungen wird. Man müßte im ganzen Lande systematisch daran gehen, dies einmal festzustellen. Das aber ist einer Einzelperson nicht möglich. Ich kann mich im folgenden demnach nur an dem geschilderten Beispiel aus dem Mühlviertei und einigen sich später daran anschließenden orientieren. Dieses Wenige jedoch läßt den Liedbestand der Leute erahnen. Ich stelle mir vor, daß es gar nicht so uninteressant wäre, über den Liedschatz einer bestimmten Generation Näheres zu erfahren.Es wird heute so vieles erforscht und erfragt. Warum nicht auch die Kennt nis von Gesängen unterschiedlichster Art, welche unsere Zeitgenossen für die mannigfaltigsten Anlässe ihres Zusam menlebens und Zusammenseins auf Vor rat haben und gar nicht so selten sogar wirklich ,,brauchen"? Man lasse mich noch einmal auf den vordem erwähnten Vorwurf zurückkom men. Es mag freilich stimmen, daß man vergleichsweise im vorausgegangenen Jahrhundert mehr als heute gesungen hat. In Schilderungen des Volksiebens vergangener Zeiten ist unentwegt die Rede von musizierenden und singenden Menschen.Sänger und Musikanten treten in zahlreichen Wand- und Tafelgemälden, In Kult- und Genreblidern als sicherlich gar nicht zu bezweifelnde Zeugen für
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