Oberösterreich, 25. Jahrgang, Heft 3, 1975

„Kranzeis" In das Fensterkreuz oder das Aufhängen am Türstock oder unter dem Dach noch fast „gedankenlos" überall geübt wird. Diese Beispiele mögen zur Illustration dessen dienen, was unter unreflektiertem, ohne Selbstbesplegelung, ohne gedruckte Vorschrift und ohne den fast zwingenden Bezug auf Publi kum, Fotodokumentation und Presse und ohne Übertragung in Rundfunk und Fern sehen ausgeübtem Volksbrauch zu ver stehen ist. Damit ist aber auch schon angedeutet, was heute bereits weltweit — d. h. auch in unserem Lande ob der Enns — unter ,,Volks- und Brauchtum" verstanden wird. Man hat dafür auch die passende Bezeichnung zur Hand, die dem eng lischen Sprachgebrauch entlehnt Ist: Folklore (In diesem Fall deutsch aus gesprochen). Das Phänomen dieser gan zen Scheinwelt der Folklore Ist unter dem Begriff „Folklorismus" bekannt. Über den Folklorismus Ist viel diskutiert und gesprochen worden', besonders seit seine Auswüchse sich immer mehr in den Vordergrund und das echte, d. h. unreflektierte, unbeeinflußte, einfach über lieferte Brauchtum zurückdrängten. Fol klore, von W.ü. Thoms 1846 In die Wissenschaftssprache eingeführt, be zeichnete an sich etwas völlig Harmloses, nämlich das Volkswissen (Volksweisheit in Sprichwörtern und Redewendungen). Später rechnete man auch noch die Volks erzählung, Sage und Märchen dazu. Erst die kritiklose Gegenwart übertrug den Begriff ,,Folklore" von der geistigen Überlieferungswelt — dem selbstverständ lich das Brauchtum und das weite Feld der Volksmusik und des Volkstanzes zuzurechnen sind — auch auf die der Sachgüter wie Tracht, Haus, Volkskunst — um nur einiges davon zu nennen. Das Jahr ist nicht genau nachweisbar, seit dem es auf einmal neben dem bisher unbeachteten, einzig für sich selbst und seine eingeborene Gesellschaft dahin lebenden Volkstum eine von Fremden beachtete, beobachtete, ja gesuchte Fol klore gab. Es mögen, besonders in An wendung auf die Naturvölker in ihren überseeischen Kolonien, Briten gewesen sein, die der Sache des Folklorismus den Weg bereiteten. Erst als das ,,Volk" zum Gegenstand und Objekt der For schung und Wissenschaft wurde, als es interessant zu werden begann und — das ist der ,,springende Punkt" — als das „Volk" sich seiner selbst bewußt und aus einem von Überlieferung Getragenen, manchmal Ergriffenen, ja Besessenen zu einem Schauspieler wurde, der nicht mehr für seine Gruppe allein (im Keim ist dieses Schauspielmäßige manchen Brauchtums von der Sache selbst her natürlich da), sondern auch für das breite Publikum der Zuschauer und Zuhörer und das Heer der Fotografen solcher Schaubräuche agierte. Die überaus komplexe Natur des Men schen mit seinen mindestens zwei Seelen in der Brust reagierte auf die neue Situation des Entdecktseins ebenso viel fältig wie verschieden. Es kam gegend weise zur Abkapselung, das Volkstum ging ins Ghetto. Manche Bräuche, deren man sich bisweilen zu schämen begann, wurden nicht mehr oder nur mehr im Verborgenen ausgeübt. Im großen und ganzen entschied sich aber gerade der darstellungsfreudige bajuwarische Öster reicher (aber nicht nur dieser) zu zwei Reaktionen: erstens, sich gerne und mit Humor „entdecken" zu lassen und zwei tens, sich die Lust an der Folklore nicht nur etwas kosten,sondern auch bezahlen zu lassen. Besonders die letztgenannte Spielart brachte den „Folklorlsmus", wie die Volkskunde — neuerdings auf manchen deutschen üniversitäten ,,Ethnosoziologie", ,,Kulturanthropologie" oder „euro päische Ethnologie" genannt — diese „zweite Welt" der Volkskultur, die „Volkskultur aus zweiter Hand" (damit ist das bereits Sekundäre ausgedrückt) bezeichnet, in Verruf. Seit die Manager des Fremdenverkehrs Folklore als Haupt zugnummer ihrer Vergnügungspro gramme entdeckt haben, scheinen die letzten Tabus der interessant gewor denen „Volks-Menschen" gefallen zu sein. In Oberösterreich, um bei dem Bei spiel zu bleiben, begann diese Entwick lung bereits vor dem ersten Weltkrieg mit den ,,Original Ober- bzw. ünterinnviertlern", herumreisenden ünterhaltungsgruppen, die ihr Gegenstück in den Zillertaler oder Tiroler,,Nationalsängern" hatten. Der reflektorische Zug des Fol klorismus verband sich bald mit den restaurativen. In der Romantik wurzeln den Bemühungen um „Erhaltung und Wiederbelebung" des alten Brauchtums. Musterbeispiel für diese Spielart sind die in den achtziger Jahren des 19. Jahr hunderts in Oberbayern gegründeten Trachtenvereine, deren Modell sehr rasch auch auf Österreich ausgedehnt und zu nächst bis auf Einzelheiten des Regle ments der oberbayrischen Trachten und Tänze (Schuhplattler) übernommen wurde. Es hat einer umfassenden und schwierigen Bildungsarbelt bedurft, um die österreichischen, natürlich auch ober österreichischen Trachtenvereine von diesem oberbayrischen Modell zu lösen und ihnen ein heimisch-überliefertes zu grundezulegen. Selbstverständlich be dient sich das Management des Fremden verkehrs mit Vorliebe des vereinsmäßig organisierten und daher ,,greifbaren" Brauchtums, um die vom Publikum ge wünschten Programme zu gestalten. Was da — nicht nur von Vereinen, sondern häufig auch von Folklore-Profis — ge boten wird, reicht vom schlichten, an spruchslos gestalteten ,,Heimat-Abend" über den ,,Tyroler-Abend" (der auch z. B. in Oberösterreich stattfinden kann) über die Miß-,,Dirndl"-Wahlen bis zu erfun denen Bräuchen wie „Sautrog-Regatta", inszenierten Bauernhochzeiten und Rekordleistungen wie das längste Alp horn, die größte Kuhglocke, den dichte sten Gamsbart, um von der stärksten Lei stung im Vertilgen von Knödeln oder in der „Löschung" der größten Anzahl von Maß Bier, von Preisjodeln, Preisrangeln, Wettfensterln usw. ganz zu schweigen. Diese Erscheinungen sind insgesamt wenig erfreulich. Gemeinsam ist ihnen mit dem ursprünglichen, gewachsenen und somit wirklich echten Volkstum höch stens nur mehr der allgemein mensch liche Drang zum Superlativ, der sich ja bisweilen, jedoch eher selten, auch dort geltend machen kann. Es verfälscht das wahre Bild des arbeitenden, mehr nach Innen gekehrten und durchaus nicht immer zu „Hetz" und ,,Gaudi" aufge legten Volkes vollständig, wenn immer nur der Aspekt selbstgefälliger Markt schreierei und peinlicher Selbstentblö ßung herausgestellt wird. Leider sind, es kann nicht verschwiegen werden, manche unserer bundesdeutschen Gäste in dieser Hinsicht gerne ansprechbar. Sie kommen ja, vorbereitet durch entspre chende Werbeschriften, bereits in der ,,Rollenerwartung" eines ewig fensterlnden und schuhplattelnden biederen Alpenvolkes, wie es das Weiße-RößlKlischee In alle Welt hinausposaunt hat, besonders zu den Glesekes von Berlin und Düsseldorf. Auf derselben Linie der in zahlreichen Varianten nachgespielten oder vorge gaukelten Operettenscheinwelt unserer geschäftstüchtigen Folkorlsten liegt der in den Souvenirläden als Volkskunst an gebotene Andenkenkitsch, den breit zu schildern wohl überflüssig sein dürfte.

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