Oberösterreich, 23. Jahrgang, Heft 3/4, 1973

die relativ rasche Normalisierung der Lebensverhältnisse in Oberösterreich, son dern auch in bedeutsamem Umfange der folgende industrielle Aufstieg, der bis heute die Produktionspotenz des Bundeslandes auf etwa das 17fache der Zwischenkriegs zeit ansteigen ließ. Allein in den Jahren 1945 bis 1954 entsprach das Leistungs volumen der oberösterreichischen Bauwirt schaft dem Aufbau einer Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern. In den ersten drei Nachkriegsjahren wurden von den damals rund 2400 Schuhmacherbetrieben 12 Mil lionen Paar Schuhe repariert und 600.000 Paar neue Schuhe produziert, die ca. drei einhalbtausend Kleidermacherwerkstätten erfüllten rund eine halbe Million Instand setzungsaufträge, fertigten 215.000 Klei dungsstücke aus umgearbeiteten Wehr machtsmänteln und -decken an, stellten ca. 190.000 Herrenanzüge, 100.000 sonstige Mäntel und 330.000 Damenkleider her. Etwa 3800 gewerbliche Betriebe lieferten der Landwirtschaft dringend benötigte Ge räte, während mehr als 4500 Handwerks betriebe mit der Verarbeitung landwirt schaftlicher Produkte für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln be faßt waren. Mit nahezu 27.000 Betrieben und insgesamt mehr als 100.000 Beschäftigten (einschließ lich der Unternehmer und mitarbeitenden Familienangehörigen) erreichte das ober österreichische Gewerbe um 1950 einen Höhepunkt seiner nach der Zahl der Werkstätten und Berufszugehörigen quan titativen Entwicklung. Mit der Erreichung des wirtschaftlichen Wiederaufbauzieles im Land begannen sich sodann von neuem die Strukturverschiebungen abzuzeichnen, die durch Technisierung und Industrialisierung verursacht sind und nur während der Nach kriegsperiode kurzfristig gehemmt oder unterbrochen wurden. Ja, der Vergleich mit der Statistik von heute zeigt, daß das Ge werbe erst nach dem Zweiten Weltkrieg und verschiedentlich sogar erst in der jüngsten Vergangenheit den wirklich letzten großen Schritt in das Zeitalter der hoch entwickelten technisierten Wirtschaft und in die Marktgegebenheiten der modernen Industriegesellschaft tun und mit allen seinen ökonomischen und sozialen Folge erscheinungen bewältigen mußte. Nur bei spielsweise sei erwähnt, daß in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur der Mitglieder stand im oberösterreichischen Gewerbe um 34,5 Prozent abgenommen hat, sondern gleichzeitig der Bestand an Kraftfahrzeugen im Bundeslande von rund 56.000 auf 472.000 anstieg. Noch stärker als z. B. im Kfz-Mechanikergewerbe, dessen Mitglieds betriebe von 440 im Jahr 1953 auf 565 im Jahr 1972 bzw. um rund ein Drittel zu nahmen, wirkte sich der Wandel der durch Motorisierung und Mechanisierung mobilen Gesellschaft mit ihren völlig geänderten Bedarfs- und Verbrauchsansprüchen etwa bei den Schmieden und Wagnern aus, deren Zahl um ca. 1100 bzw. um mehr als die Hälfte zurückging, während sie anderer seits in den Sparten des Baugewerbes sich bis zu 90 Prozent erhöhte. Den größten absoluten und auch relativen Schwund hatten die ausgesprochenen Versorgungs gewerbe des täglichen Bedarfes, wie etwa die Schuhmacher und Kleidermacher mit nahezu 5000 Innungsmitgliedern bzw. auf knapp 25 Prozent zu registrieren. Der Umstand, daß sich hierbei der Be schäftigtenstand im oberösterreichischen Gewerbe stabil bzw. eher leicht steigend verhielt, läßt das Ausmaß des Struktur wandels erkennen, zugleich aber auch den Trend zum durchschnittlich größeren Be trieb. In Verbindung mit der fortschreiten den Mechanisierung ist er außerdem ein Merkmal der wachsenden Produktions leistung. Daß sich der handwerkliche Wirt schaftsbereich in dieser Weise von neuem behaupten und die oftmals sich geradezu revolutionär vollziehenden Umschichtungen ohne wirtschaftlichen und sozialen Zusam menbruch verkraften konnte, ist zweifels ohne in entscheidendem Sinne der organi satorischen Neuordnung im Zuge der neuen österreichischen Kammergesetzgebung zu zuschreiben. Nur der Ausbau der 1946/47 konstituierten „Kammern der gewerblichen Wirtschaft" zu einer tatsächlich gesamt wirtschaftlichen Standesvertretung und die Eingliederung der früher selbständigen fachlichen Organisationen in diese alle Wirtschaftsbereiche umfassende Anwalt schaft schuf dieser und damit auch dem Gewerbe jenes Gewicht im staatspolitischen Geschehen, daß die Lebenskräfte des Hand werks erhalten, größere wirtschaftliche Er schütterungen verhindert und soziale Radi kalismen nach französischem Muster ver mieden werden konnten. Und ebenso wie zur Zeit ihrer Gründung war auch diesmal die oberösterreichische Kammer wieder ein Vorreiter für zielstrebige Maßnahmen und Einrichtungen. Die Einführung des klein gewerblichen Kredit- und Beihilfenwesens auf Landesebene, der erfolgreiche Kampf um die gewerbliche Pensionsversicherung und die Steuerpauschalierung sind nur einige Wegmarken in dieser Richtung. Sie halfen dem oberösterreichischen Gewerbe, den Übergang Oberösterreichs von einer noch in der Zwischenkriegszeit bäuerlich gewerblichen Region zum überwiegend in dustriell orientierten Gebiet bei Erhaltung und sogar einer Steigerung der Leistungs potenz von Acker und Werkstatt zu meistern. Welche Dynamik sich hinter die sen Vergleichen verbirgt, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß gegenüber den dreißiger Jahren der Beschäftigtenstand im Gewerbe nur mehr um ein Drittel zuge nommen und jener in der Industrie sich mehr als verfünffacht hat. Wie einleitend erwähnt, bestehen zwischen der Entwicklung des Gewerbes und der Sphäre des kulturellen und zivilisatorischen Fortschritts seit jeher enge Wechselbe ziehungen. Ebenso ist das Gewerbe aber auch ein gewichtiger politischer Faktor. Vom Standpunkt der historischen Betrach tung ist es hierbei auffallend, daß z. B. das Gewerbe in Oberösterreich schon im 19. Jahrhundert hervorragende Persönlich keiten des öffentlichen Lebens hervor brachte, wie etwa Ferdinand Wiesbach, den Gründer des ersten Genossenschaftsver bandes, den Kaiserlichen Rat und Landtags abgeordneten Karl Wöhrle, der das Ge werbeförderungsinstitut initiierte u. a. m. Die Spitzenfunktion in der Kammer als oberösterreichisches Wirtschaftsparlament hatten jedoch von 1851 bis 1945 immer nur Industrielle und Exponenten des Kauf mannsstandes inne. Erst im Zeichen des Wiederaufbaues aus den Scherben eines totalen Zusammenbruches und der Bewäl tigung einer Umschichtung des wirtschaft lichen und sozialen Gefüges von seinen Grundfesten her wurden sowohl in Ober österreich, ebenso aber auch in der gesamt österreichischen Wirtschaftsvertretung im Rahmen der Bundeskammer der ge werblichen Wirtschaft Männer an die Spitze berufen, die zuvorderst im Ge werbestand verankert sind. Diese Fest stellung gilt gleichermaßen für die po litische Organisation der Wirtschaft. Sicherlich sind die Ursachen hierfür zu nächst einmal auf persönliche Qualifikatio nen zurückzuführen. Die Parallelität zwi schen Bund und Land, die nicht nur für Oberösterreich gilt, sondern auch für die meisten anderen Bundesländer, ist jedoch zu auffällig, um nicht als symptomatisch erachtet zu werden. Es drängt sich die Frage auf, weshalb das Gewerbe erst zu einem Zeitpunkt die Führung angetreten hat, als es wirtschaftlich nicht mehr im früheren Umfange den Vorrang inne hatte, sondern in dieser Hinsicht schon neben und nach der Industrie rangierte. Die Erklärung hierfür ist, außer in der zahlenmäßigen Stärke, wohl vor allem darin zu finden, daß gerade das Gewerbe als eine fundamentale Wirtschaftsgruppe, für die sich die Daseins verhältnisse am stärksten gewandelt haben, sowohl deshalb wie auch auf Grund seiner Fähigkeiten zur Anpassung und schöpfe risch wirksamen Umstellung besonders da zu berufen ist, auch auf der Ebene der Wirtschafts- und Sozialpolitik jene Pro bleme zu meistern, die in einer Zeit der Umkehrung aller Größen- und Wert kategorien der Weg vom Gestern ins Heute und Morgen aufwirft. Österreich und das Land zwischen Inn und Enns sind hierbei zweifelsohne bisher nicht schlecht gefahren.

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