Oberösterreich, 22. Jahrgang, Heft 2, 1972

Friedrich Lotter Das neue Bild des norischen Severin Während die Epoche des Untergangs der römischen Herrschaft in den europäischen Provinzen des Imperiums sonst in nahezu undurchdringliche Finsternis getaucht ist, wirft im Ostalpen-Donau-Raum eine er staunliche Quelle Licht auf die Vorgänge, welche das Sterben einer hochentwickelten Zivilisation begleiten. Im Jahre 511 be schrieb Eugipp, Abt eines Klosters am Golf von Neapel, in der „Vita Severini" das Le ben eines Heiligen, der als Anachoret in einer Wüste des Ostens gelebt hatte und von dort während der Wirren nach dem Tode des Hunnenkönigs Attila in das Do nauuferland von Norikum gekommen war, um — einem göttlichen Auftrag folgend — den von beständigen Einfällen der Bar baren, von Mord,Hunger und Armut heim gesuchten Provinzbewohnern Trost und Hilfe zu bringen. Der heilige Severin wird dabei als Bußprediger und Asket, Prophet und Wundertäter dargestellt, der das an deren Menschen Verborgene in Gegenwart und Zukunft sah, der Gefangene befreite. Kranke heilte und sogar einen Toten er weckte. Auch gründete er Klöster und or ganisierte mit Hilfe der Mönche ein bi blisch begründetes System sozialer Fürsorge für Flüchtlinge und Notleidende; den Für sten der germanischen Stämme, denen das Land fast wehrlos ausgeliefert war, trat er furchtlos entgegen und bewog sie zur Scho nung der römischen Bevölkerung. Als die Verhältnisse immer unerträglicher wurden, hat er selbst die Räumung der oberhalb von Lauriacum (Lorch-Enns) gelegenen Donauplätze eingeleitet und, als nach sei nem Tode, wie er angeblich vorausgesagt hatte, der Exodus der Provinzialen nach Italien erfolgte, führten die Mönche seinen Leichnam mit, der schließlich in dem von Eugipp geleiteten Kloster bei Neapel seine letzte Ruhestätte fand. Die in der Vita festgehaltene Überlieferung über Severin hat fortan das Bild dieser ein zigartigen Persönlichkeit bestimmt. Schon um die Mitte des 6. Jahrhunderts bezeich net ein Annalenwerk,das nur noch Eugipps Vita kennt, Severin als „Mönch in Pannonien",und bis in wissenschaftliche Abhand lungen und Lexikaartikel der jüngsten Zeit hinein tritt er uns als „Mönch und Wun dermann" oder „Apostel des Glaubens friedens" entgegen. Freihch fiel immer wie der auf, daß Eugipp selbst den Heiligen niemals Mönch oder gar Abt nennt. Es wurde daher der Versuch gemacht, durch eine Konjektur wenigstens die Abtwürde für Severin zu sichern. Gegenüber allzu euphorischen Äußerungen über die Zuver lässigkeit der Darstellung Eugipps erhob freilich schon vor einigen Jahren Diesner die Forderung nach einer „Entmythologisierung" der Vita. Eugipp galt allgemein als Schüler des Hei ligen, der zumindest teilweise als Augen zeuge der von ihm geschilderten Ereignisse anzusehen sei. Er selbst bezeichnet aller dings die Erzählungen der älteren Kloster brüder als Quelle seiner Schrift. Tatsäch lich finden sich in ihr keinerlei Indizien für persönliche Beziehungen Eugipps zu Seve rin, vielmehr spricht die Angabe des Au tors, nur ein von ihm mitgeteiltes Faktum habe er „sogar schon zu Lebzeiten Seve rins" in Erfahrung gebracht, dagegen. Eine Stelle, die bisher als Beleg für die An wesenheit Eugipps beim Tode des Heiligen angesehen wurde, erweist sich bei näherem Zusehen als Variante, die im Widerspruch zu den sonstigen Aussagen des Kontextes steht. Auch eine Bemerkung im Brief des Diakons Paschasius, der eine Antwort auf das an ihn gerichtete Begleitschreiben der Vita darstellt, ist so allgemein gefaßt, daß sie ebensogut auf die Augenzeugenschaft der Berichterstatter des Eugipp wie auf die sen selbst bezogen werden könnte, wenn man nicht überhaupt mit schlechter Unter richtung des Briefschreibers rechnen will. Als Argument gegen persönliche Kontakte Eugipps zu dem Helden seiner Schrift muß auch der Umstand dienen, daß der Autor bei anderen Gelegenheiten seine Anwesen heit keineswegs verschweigt, so bei der Erhebung des Leichnams und seiner Über führung nach Italien. Wie sich aus diesen Feststellungen ergibt, dürften Eugipps Nachrichten über Severin wohl durchwegs aus zweiter Hand stammen. Doch, wie dem auch sei, in jedem Fall hat die Severintradition einen Prozeß fort schreitender Legendenbildung durchlaufen, wie wir ihn vielfach in hagiographischer Literatur feststellen können. Demnach er folgt die mündliche Weitergabe der Über lieferung in Form von in sich abgerunde ten perikopenartigen Erzählungen, wie sie Evangelien und Heiligenviten in gleicher Weise kennen. Entsprechend den von der wissenschaftlichen Volkssagenforschung ebenso wie der Bibelkritik erschlossenen Gesetzen verändern sich diese Geschichten bei der Wanderung von Mund zu Mund mit fortschreitender Stilisierung. So fallen untypische Züge allmählich fort, typische Elemente werden hinzugefügt, gewisse Ob jekte mitunter verdoppelt oder gar verviel facht, die Namen von Personen oder ört lichkeiten ausgetauscht, denn diese Details sind zwar im Sinne der ahistorischen Inten tion dieser Erzählform unwesentlich, zur Präzisierung der Darstellung jedoch erfor derlich. So assimilieren sich im Verlauf die ses Prozesses die in der Erinnerung lang sam verblassenden historischen Ereignisse immer mehr bestimmten typologischen Mu stern, Modellen von Verhaltensweisen und Vorgängen, wie sie im Umkreis von Hei ligen immer wieder registriert worden sind. Durch den Austausch einzelner Elemente und die Fortentwicklung bestimmter An sätze kommt es dabei naturgemäß zur Bil dung von verschiedenen Versionen dersel ben Erzählung, sogenannten hagiographischen Dubletten, wie sie in den Evangelien und Heiligenlegenden — ähnlich wie in der Volkssagenüberlieferung — immer wieder zu finden sind. Solche Dubletten sind nun auch in der Severinvita festzustellen. Eugipp hat selbst nicht bemerkt, daß die wunderbare Reli quienauffindung in c. 9 bis in Einzelheiten der Formulierung hinein mit der in c. 23 identisch ist, lediglich die örtlichkeiten und die Namen der Heiligen sind hier ausge wechselt worden. Innere Widersprüche im Kontext der beiden Berichte bezeugen zwei felsfrei den Tatbestand. Desgleichen ent spricht die wunderbare Heilung einer Bäue rin in c. 14 bis auf die Person genau der eines rugischen Jünglings in c. 33. Im Falle der Heilung eines Leprakranken c. 26 und 34 hingegen erhält jede Fassung Züge, wel che die der anderen ergänzen. Darüber hinaus läßt sich hier die Weiterbildung einer zunächst rein geistig aufgefaßten Ge nesung zu einer körperlichen im Motiv der Erlösung von der Krankheit fassen. Als Dublette müssen auch die zwei Kerzen wunder gelten, die beide im Raum von luvavum (Salzburg) lokalisiert sind. Hier

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