Oberösterreich, 21. Jahrgang, Heft 1, 1971

großen Begehren; aus dem Hunger, aus dem Leben und aus dem Tod. Das Unberührte zeigt für einen kleinen Moment seinen Radius, nur der Morgen beleuchtet ihn kurz, dann schließt die Wirklichkeit ihren Kreis. A.ist ein unvorstellbar großer Kreis." „Sie müssen des Abends in A. ankommen",sagte Gustavus zu mir, „um zu spüren, wie sich die Bewegung des ganzen Tages auf einmal zurückzieht, sich verbeugt und verschwindet. Übrig bleibt dann nur mehr, was so wirklich und so wahrhaftig ist, daß es sich selber genügt: das Land selbst, seine hohen Bäume, die sich im Winde be wegen,und das Geräusch des Wassers,das sich im Ufer verläuft. Auf einem hohen Wipfel singt eine Amsel, im Osten steht schon ein Stern. Vielleicht hat der Mond das Zeichen der Hoffnung an den westlichen Himmel gesetzt: jenen feinen goldenen Bogen, der sein Kommen anzeigt, und vor dem sich altmodische Leute dreimal ver beugen und dreimal ihr Sprüchlein sagen: Guter Mond, schenk mir was; guter Mond,schenk mir was — guter Mond, schenk mir was! Aus den Wiesen steigt der Hauch des Tages auf, die heiße Erinne rung; sie möchte zurückgehen in die Nacht, aber die will sie nicht. Da bleibt dann der Tropfen stehn auf den Gräsern,im Klee: Tau — Die Welt sinkt in sich zusammen, der Himmel wird immer größer und seine Lichter werden immer leuchtender. Die Menschen verges sen den Staub und die Mühsal, weil über ihnen die Sternbilder wan dern: der Bär, der Löwe, der Schwan. Alle vor uns haben diese Bil der schon gesehen — alle nach uns werden sie wieder sehen; was sollen wir da weinen? Immer ist ein Jetzt,immer ein Mensch, der in diesem Jetzt lebt. Und immer wird sein eine Nacht, die den Blick vom Kleinen ablöst, und wenn es auch noch so nah ist, und plötz lich die Größe fühlen läßt,die in der Ferne liegt. Ich wünsche Ihnen sehr", sagte Gustavus,„daß Sie erst des Abends hinkommen und alles sehen ..." Ich fuhr eines Tages, völlig unerwartet, wirklich nach A. Doch war es Winter und Nacht, als ich in der großen Stadt aus dem Zug stieg; es roch nicht nach Schafgarbe und nicht nach dem scharfen Wind,der von den Bergen kommt — es standen auch keine Bäume vor mir, sondern riesige stille steinerne Häuser, grau und traurig vom Staub der Zeit. Ich hörte nichts rings um mich als nur die technischen Geräusche,die eine Stadt auch im Winter und auch in der Nacht nicht aufgibt: wenn eine Tram oder ein Zug oder ein Auto vorüberfährt. Sonst war es still; die Dunkelheit verschluckte sogar den Ton der Schritte. Vor mir lag eine lange Straße stadteinwärts; ich ging sie wie ein Blinder dahin und kümmerte mich nicht um ein Ziel, doch kam ich unwillkürlich in den inneren Teil der Stadt, und während ich planlos Schritt für Schritt weiterging, immer wieder eine Gasse entlang, öffnete sich plötzlich ein weiter Platz. Aus seiner Mitte wuchs die Kathedrale. Ich sage absichtlich: wuchs — denn ich spürte die Wurzeln dieser Kirche in der Erde unter meinen Füßen,ich fühlte, daß sie sehr weit in den Grund hinunterreichten, und ich spürte auch das Zittern des Bodens unter mir, da der Wind der großen Welt sich in dem hohen Turm verfing. Plötzlich ahnte ich alles, wenn ich es auch nicht in Worten hätte sagen können.Darum ging ich an das Tor der großen Kathedrale und setzte mich auf ihre Stufen, über die seit Jahrhunderten die Menschen aus und ein gehen — viele, viele Menschen mit vielen, vielen Hoffnungen und Wünschen. Ich schloß die Augen und erkannte mit einem Male die Wälder des Nordens, den See im Osten, die Weiten des Landes,

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