Oberösterreich, 20. Jahrgang, Heft 2, 1970

Die Liebe läßt ihn viele Briefe herrlichster Verklärung schreiben, die dann später in das Werk eingewoben werden. Der Ge fährtin übergibt er auch die Abschrift seines Dialogs, zuerst „Weiße Gardinen" benannt, dann in „Walder" umgetauft, bis es mit „Incommodus" endgültig betitelt war, obwohl die inhaltliche und formale Erklärung „Sinfonisches Vorspiel" (in drei Sätzen; Allegro — Andante — Presto) eben so in jenem weiten szenarischen Horizont schwebt, der nicht durch eine feste Hand lung abgegrenzt ist, sondern dem Traum haften und Unbestimmbaren weitesten Raum läßt. Dieses eine dem Expressionisten Reinhard Johannes Sorge verwandte Stück ist das literarische Testament des Dichters, von dem er nur hoffen konnte, daß es über leben werde, denn er selbst war außer stande, bei seiner Krankheit etwas dafür zu tun. Er ließ zehn Kopien anfertigen, eine Abschrift vertraute er der Freundin an, die sie solange bewahrte, als sie sich durch eine unruhige Epoche nicht gefährdet wußte. Dann vernichtete sie das Skript, denn die Ära verurteilte die Problematik der Ausdruckskunst, sie wollte nichts wis sen von stilistischer Aktion, sie war auf heimattümliche Reaktion beschränkt. Un verbrannt blieben nur die Erinnerungen an Walter Nikodemus Thöni und seine „Briefe an Claudia" und etliche Gedichte sowie Filmbesprechungen, die der Student für die Zeitung „Morgenpost" geschrieben hatte. Aber all diese Aufzeichnungen sind literarisch nicht schlackenrein. Persönliches haftet an ihnen. Wer sie durchblättert, muß sich mit dem menschlichen Schicksal befassen, das aber nicht allzu viel vom Wollen und Planen erklärt. Darum ist es nicht wichtig, hier mitzu teilen, wie nach vierzig Jahren wieder in einer Linzer Familie eine jener zehn Kopien gefunden wurde, die der Todkranke hatte machen lassen, damit seine dramatischen Bemühungen nicht vergeblich gewesen seien. Adele Dürnberger hat gehütet, was zu pflegen war: das Andenken an den Jüngling, die Erinnerung an ein Gemein sames, das mehr war als Freundschaft und glückliche Zweisamkeit, die Schriften und Zeugnisse eines zu sich erwachenden Menschen. „Ich weiß nicht, ob ich Dich aus Deinem offenen unbewußten Leben in mein dunk les,freudeloses bewußtes Denkleben führen darf? Meine wunderliebe Claudia, ich bin wie ein alleinstehender, etwas geknickter Baum, dessen Augen bei Tag denkend am Boden kleben, bei Nacht in ängstlicher Lebenssehnsucht Himmel durchbrechen." So beginnt die Stationenbeschreibung der letzten rastlosen Aufenthalte am 10. Juli 1922, um am 17. Februar 1925 mit den kurzen Zeilen zu schließen; „Liebste! Hotel Europe gut ausgeruht, erwarte ich in Sehn sucht Deine lieben Äuglein, daß sie mich erquicken nach gräßlicher Fahrt. Noch vor dieser schönen Karte, werde ich, der Schönste in Deinen Armen liegen." Was ist daran schon eigenständig, was ist Kli schee und Tribut des Herkömmlichen? Die Gestaltung ist nur flüchtig durch die Gold wäsche gegangen, der Ausdruck hat sich noch nicht verfeinert. Die Sehnsucht und das ruhelose Treiben, Erbwerte der Roman tik, sind so stark, daß sie das Ichbezogene nicht filtern. Alles ist Durchgang und Über gang. Von Gegenwart erfüllt, ahnt der Frühvollendete kaum seinen Werdeweg, der ein Sterbeweg ist. Die Textprüfung der wiederentdeckten Ab schrift ergab zwar Flüchtigkeits- und Recht schreibfehler, aber sie konnten leicht als solche und nicht als verschiedene Fassungs entwürfe erkannt werden. Das Drama „Incommodus" ist nach musikalischen Prinzipien aufgebaut. Seine Wirkung leitet sich vom sinfonischen Satz, Gegensatz und Zusammensatz ab. Den zwei Hauptsprechern (Incommodus und Mutter, entliehen dem Gemälde faustischer Unterwelt) antwortet ein Chor der Knaben. Der Duktus der Rede ist stöhnend und geschlechtlich betont. Ähnlichkeiten mit an deren ekstatischen Szenarien des drama tischen Expressionismus sind schnell zu er kennen. Äuch der biblischen Sprachgewalt wurde gefolgt. Ob Walter Nikodemus Thöni seine Auf zeichnungen bereits durch die tödliche Krankheit, die wenige Monate nach der Beendigung der Arbeit ausbricht, nachdem sie lange heimlich da war, inspirierend oder ängstigend vorangetrieben hat, kann aus dem Wortrhythmus, aus der ungeordneten Handlung und aus der Flucht in Vorbilder bejaht werden. Der Kampf um eine poetitische Unsterblichkeit ist zugleich der Kampf um einen eigenwilligen Ausdruck, den stilistische Tüftler oder strenge Grammatiker ankreiden mögen. Die vielen Rufzeichen und Gedankenstriche, die die hymnische Prosa zerhacken, sind symbo lische Buchstaben für die Hast, Verzweif lung, Unruhe und brennende Liebe. Die Tage sind gezählt. Daher ist der Aufschrei so wild und ungezügelt. Der Haß richtet sich gegen die Mutter, die ihn besser nicht ausgetragen hätte, weil sie ganz mit sich selbst beschäftigt für ihres Geistes Erbteil keine Zeit hat, aber umso mehr Vergeu dung aufbringt für ihres Fleisches Willen. Das gängige Vater-Sohn-Problem des Ex pressionismus (siehe Walter Hasenclever) ist gewendet in die Mutter-Sohn-Spannung, vielleicht oder sogar wahrscheinlich, weil Walter Nikodemus Thöni den Kampf mit seinem Erzeuger nicht auszutragen brauchte, da dieser vorher starb. Die Aus einandersetzung allerdings bleibt ankläge risch, weil sich das Kind mutter- und schutzlos glaubt. Das Thema des Generationsabscheus und der Trennung und Zwietracht zwischen der Gebärerin und dem Geborenen ist in der Schärfe der Diktion vollexpressionistisch. Der Ausgleich, in der Wirklichkeit gesucht, wird zum Wunschtraum, Claudia mit Na men.(Die Briefe sind in Anlehnung an den Zyklus „Novellen um Claudia" von Arnold Zweig mit diesem Phantasiegebild identi fiziert worden,um auch inhaltlich einen Ab- ,stand zur Mutter zu schaffen.) Was sich in den freien Rhythmen der Ge dichte ablesen läßt, ist die Vorausnahme gewisser Stilmittel, die erst später als die bewußte Zersetzung des Verses durch Prosodie summiert. Das ist wie die Ver wendung der mobilen Marionette des modernen Theaters von 1965, die mehrere Rollen auf einmal mimt und rezitiert, weil sie nur sprechen und nicht darstellen muß, ein literarisches Probieren, das selbst noch in seinem Mißlingen beachtenswert war. Naturalistische Interpretation, die sich bequemer anböte, würde völlig versagen am Plakatenen des hysterischen Dialogs. Ob „Incommodus" ein fertiges Werk ge nannt werden darf? üb dieses Drama einen literarischen Eigenwert oder nur Anlesereiz hat? Ob der Autor, nach einer positiven Würdigung durch Kritiker und Kundige, zu posthumem Lorbeer kommt? Das sind Fragen, die mit der literarischen Entdeckung selbst nicht zusammenhängen, sondern erst in zweiter Linie aktuell werden. Die Tatsache, daß die Ausdruckskunst, als schöpferischer Gegenschlag zum Naturalis mus, mit ihren typischen Erkennungsmerk malen in dem Dramenentwurf „Incommo dus" Gestalt annahm, ferner, daß ein Lin zer, der sonst der Vergessenheit anheim gefallen wäre, mit einer wesentlichen Dich tung und in seiner Vaterstadt wieder7 erweckt ward, endlich, daß durch Walter Nikodemus Thöni der Poesie Oberöster reichs und Österreichs und damit der deutschsprachigen Dichtung und dem Ex pressionismus ein neues Jünglingsbild ein gefügt wurde, verdient festgehalten zu werden. Die geistige Abhängigkeit ist beim Autor des „Incommodus" nicht stärker und anders als später beim Linzer Lyriker und Wandervogel August Krenn, der allerdings seine Verse noch gedruckt sah. Dem Mangel an Öffentlichkeit könnte be gegnet werden, indem der heimische Rund funk etliche Szenen oder das ganze Stück in einer Studioaufführung bringt. Welches Institut das Werk und die Briefe bewahren will — es wurde das Schiller-Museum in Marbach verständigt — ist nicht so sehr eine Frage der örtlichen als der spirituellen Zu gehörigkeit. Die Literaturgeschichte wird sich in ihrem merzenden Hochmut um fünf bis zehn Zeilen auf Walter Nikodemus Thöni erweichen lassen. Bis dahin mögen die Tränen der Erinne rung verklären das Unvollendete-Frühvollendete zu jenen Ranghöhen, wo die Zwei fel am Gelingen mit dem Schmerz und der Trauer des Verzichts in eins fließen; in jenes Unendliche der Poesie,in dem nur das Schöne als Glorie und das Wort als Musik selbst noch im Aufschrei harmonieren.

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