Oberösterreich, 20. Jahrgang, Heft 1, 1970

Peter Kraft Adalbert Stifters Ausstrahlung auf die Weltliteratur Ein Mann des engsten Heimaterlebnisses bricht auf aus seiner Berg-Hügel-Wald-Heimat und wird in der nicht allzu weit ent fernten Hauptstadt des Reiches zu dem, der er seinem inneren Entwurf nach not wendig ist. Aber all das ereignet sich nur, damit dieser Mann wieder baldigst in sein Kindheitsland zurückkehrt, nicht ganz zwar, aber doch in die Nähe davon. Am Rande gerade des mächtigen,abgeschliffenen Urgesteinmassivs läßt er sich nieder, nimmt die Mühen eines Brotberufs auf sich, er klärt seine Gegend zum kulturfernen Böotien und Hottentottien und schreibt doch unbeirrt in der Sprache, nach der er ange treten ist, sagt den Satz, auf den es nach Karl Kraus einzig und allein ankommt und erringt sich den Lorbeer der Weltliteratur: Adalbert Stifter. Seine in die Fremdsprachigkeit eingegan genen Hauptwerke, der für Verleger ehren hafte und annehmbare Bucherfolg seiner Feder steht hundert Jahre nach seinem Tod zur Diskussion in dieser kleinen Unter suchung, die nur zusammenreiht und kurso risch zu überblicken versucht, was andere schon vorher in strenger fachwissenschaft licher Untersuchung wie in glänzend for mulierten Essays geleistet haben. Adalbert Stifter ist im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zu einer weltliterarischen Tatsache geworden. Aller dings handelt es sich dabei, wie man sehr rasch überprüfen kann, um keine Mas senrezeption, sondern es weht um das Gebirgsmassiv seines Gesamtwerkes ein scharfer Gipfelwind, der nur für eine ver hältnismäßig kleine Anhängerschaft be stimmt ist. Die hohen Schulen in England und Amerika, in Israel und Japan, samt ihren angeschlossenen germanistischen In stituten singen mit deutschsprachigen Stu dienausgaben und Teilübersetzungen sei nen Ruhm, die Randnationen der längst auseinandergefallenen Donaumonarchie — wie Italien, Ungarn und die den böhmischen Schicksalsraum des Dichters einschließende Tschechoslowakei — versuchen aus ihrer un mittelbaren sprachlichen Nachbarschaft nä her in die Substanz und Problematik dieses Werkes einzudringen, und die deutschspra chige Leser- und Forschergemeinde, im sprachlichen Stammraum genauso wie in der Weltzerstreuung, fügt immer weiter Ä 'knA-LIirVlT BTIFT1..R 1 '' "oetJVBES. — |il||viEÜX üARüON|f|L Uaieit 4e.rall«si«n^ ■ pm ■ ■ « n/ A llü il.i Baustein um Baustein zum zukünftigen Gesamtverständnis. Dennoch gilt fast mit tragischer Folgerichtigkeit eine Feststellung von Johannes Urzidil, dem aus Prag nach New York verschlagenen und dort ein gewurzelten Stifter-Kenner und -Publi zisten: „Vor hundert Jahren mochte Stifter noch eine Zeit erhoffen, in der die Völker nicht mehr allein sein werden, sondern wie Mensch und Mensch, Nachbar und Nach bar,Freund und Freund." Urzidil fährt fort: „Dieser an sich revolutionäre Wunsch klingt heutzutage fast philiströs ... Aber an jener ,Witiko'-Hoffnung ist etwas von einem bis lang noch nicht ausgeloteten Interesse. Es ist die Wahrnehmung von der Einsamkeit der Völker. Menschen sind nicht einsam oder müssen es nicht sein. Völker sind ein sam. Ihre Einsamkeit ist unaufhebbar. Zwi schen ihnen erheben sich die Schranken der Sprachen mit der sublimen Perspektivenund Assoziationenfülle eines jeden Wortes, dessen tiefere Übersetzbarkeit ebenso we nig erreichbar ist, wie etwa die Über setzung von Geist und Wesen Dostojewskys in Geist und Wesen Flauberts und umgekehrt; zwischen ihnen erheben sich ferner die Schranken der Bräuche, der Klimate und noch vieler anderer Barrieren, die zuweilen zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mann und Frau, wenn nicht geradezu fallen, so doch sich einigermaßen senken mögen, nicht aber zwischen Volk und Volk." Urzidil hat in der Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Institutes des Landes Oberösterreich (Jg. 17, 1968, Folge 1/2) den Aufsatz „Stifter im Zeitalter des Welt raumflugs"(aus dem auch dieses erste Zitat entnommen ist) zum Ausgangspunkt einer Betrachtung genommen, wie man das Werk und die Kunst dieses deutschen Dichters aus dem alten Österreich dem amerikani schen Durchschnittsleser und vor allem der amerikanischen Jugend nahebringen könnte. Er erinnert sich zunächst einer Un terhaltung mit dem schon verstorbenen New Yorker Verleger Kurt Wolff während der vierziger Jahre. Dieser wollte unbedingt die Erzählung „Bergkristall" in amerikani scher Übersetzung herausbringen: ohne Vorwort und Kommentar. Er tat es, ge warnt von Urzidil, und das Werk ging sogleich unter. Urzidils Anregung wiederum wäre es gewesen, einen lebendigen, von Schul- und Fachwissenschaft gänzlich gerei nigten und nur auf den allgemeinen menschlichen und kulturellen Zusammen hang bezogenen Begleittext zur Erzählung zu schreiben, der gleichsam dann die Brücke mitten in den amerikanischen Alltag hinein schlagen sollte. „Vielleicht", sinniert er fort, „wären dem amerikanischen Leser Prosen wie die Sonnenfinsternis oder der Condor nähergewesen ... (in letzter Erzählung be sonders)... die freie Frau, die im Luft ballon fliegt und dabei ihre Weiblichkeit behält" (eine Vorfahrin also der heutigen Astronauten). Stifter saß ja auch schon als privatisierender Naturwissenschafter des Vormärz „vor dem Fernsehschirm seiner Visionen und kommunizierte via Telstar mit der Zukunft". Dennoch, die Frucht amerikanischer StifterErschließung bleibt nach Urzidil „ferner hin und bis auf weiteres auf die amerika nischen Germanisten und deren Seminare beschränkt". Es mutet dabei doppelt merk würdig jene schicksalhafte Symmetrie gei stiger Verwandtschaft an, die Adalbert Stifter mit seinem frühen Anreger Fenimore Cooper verbindet. Die Schriften des groß artigen Landschaftsschilderers aus dem amerikanischen Urwald waren deutschspra chig auch dem landschaftsfreudigen öster reichischen Publikum um die Mitte des ver gangenen Jahrhunderts erschlossen, mit ih nen tröstete sich Schubert auf seinem Kran kenlager und aus ihnen empfing wohl auch Stifter ungefähr zur selben Zeit sein Leit thema vom schweigenden Wald, der aus Kinderzeiten in seinem Bewußtsein ein gezeichnet war.Die Folgerung daraus müßte heute lauten: Wie kommt das Amerika der

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