Oberösterreich, 20. Jahrgang, Heft 1, 1970

auf uns gekommen und hat die Innenaus stattung zur Gänze eingebüßt. Die kultur tragenden und kunstfördernden Kräfte in Oberösterreich waren nicht der fern in Wien residierende Landesherr, sondern die Landstände. Was der Adel leistete, ist größtenteils untergegangen. Was die Prä laten der Stifte und die Bürgerschaft der Städte schufen, prägt noch heute das kul turelle und künstlerische Antlitz des Lan des. So nimmt es nicht wunder, daß auch sämtliche Spitzenwerke (natürlich mit Aus nahme des Oeuvres von Kubin) diesem Kreis entstammen, wobei die Stifte mit Abstand die Führung innehaben. I. Der Tassilokelch (Salzburg? um 770). Dem Tassilokelch kommt in mehrfacher Hinsicht überragende, ja einzigartige Be deutung zu. Überragend ist die künstleri sche Gesamtanlage des Kelches: das abge wogene MaßVerhältnis seiner Teile (Kuppa, Nodus, Fuß), wobei die Kuppa den Kelch machtvoll beherrscht, die ornamentale und figurale Ausschmückung, die die Außen flächen zur Gänze überzieht, die künstleri sche und technische Vollendung, mit der diese Zier ausgeführt ist, der Reichtum an Gedanken und Beziehungen, der den For men zugrundeliegt. Großartig und restlos überzeugend gelang die formale Umsetzung des gedanklichen Aufbaues: der Fuß trägt einerseits die Widmungsumschrift, durch die der Kultgegenstand auf dem Boden der „realen" Geschichte aufruht (nach Stollen mayer Hochzeitskelch für den bayerischen Herzog Tassilo 111. und seine Frau Liutpirc aus langobardischem Königsgeschlecht), anderseits die Bilder der schützenden „Hausheiligen" beider Geschlechter. An der parapoloiden Kuppa erscheint die Dar stellung des überweltlichen Bereiches mit Christus und den vier Evangelisten. Der Kuppa wie dem Fuß ist in sinnvollster Weise die entsprechende Ornamentik zu geordnet (z. B. am Grund der Kuppa, in dem der zum Blute Christi verwandelte Wein ruht, das Motiv des Weinstocks usw.), eine Flechtband-, Pflanzen- und Tierornamentik, die sich im Nodus zu einem Rautenmuster geometrisiert und da mit die obere und untere Zone des Kelches sowohl verbindet als auch scheidet. Darüber hinaus liegt dem Gerüst des Aufbaues eine tiefere Zahlensymbolik zugrunde. In der Verbindung von menschlicher Figur und seiner Herkunft nach weitverzweigtem Ornament ist der Tassilokelch ein außer gewöhnliches Beispiel für das eurasisch ausgespannte Beziehungsfeld der frühmit telalterlichen Kunst und insbesondere für das Zusammentreffen der mediterranen und nordischen Formenwelt. Damit steigt er aber auch auf zum sichtbaren Zeichen für den geistigen Durchdringungsprozeß von Nord und Süd, der in der Zeit Karls des Großen einen ersten Höhepunkt erreicht hat. So wächst die Bedeutung dieses Kel ches, der auch ein Symbol für die hoch fliegenden politischen Pläne des letzten Agilolfingers darstellt, weit über das stam mesmäßig Gebundene ins Europäische hin aus und Europa repräsentierte bis ins 19. Jahrhundert hinein eben die „Welt". Über den Herstellungsort des Kelches herrscht noch keine einhellige Meinung. Sicher sind enge Zusammenhänge mit der insularen Kunst. Sie schließen jedoch eine kontinentale Entstehung keineswegs aus. Dabei spricht vieles, vor allem wegen der Schlüsselstellung Abtbischofs Virgil, für das damalige religiös-geistige und kulturell künstlerische Zentrum des bayerischen Her zogtums, Salzburg. An den Tassilokelch ließen sich als weitere wichtige, in Oberösterreich beheimatete Werke jener Zeit der Godex Millenarius in Kremsmünster und die erst um 1950 in ihrer Bedeutung für die frühmittelalterliche Baukunst erkannte Martinskirche in Linz anschließen. 2. Die Lambacher Fresken (um 1080). Die überregionale Bedeutung der Lambacher Fresken liegt nicht sosehr in ihrer Qualität (sie reichen z. B. nicht an den künstlerischen Rang der Nonnberger Fresken in Salzburg oder gar des Antiphonars von St. Peter heran), als vielmehr in ihrer frühen Ent stehungszeit, ihrem flächenmäßigen Um fang, der Besonderheit ihrer Thematik und vor allem dem „taufrischen" Erhaltungszu stand der Malerei als solcher. Die epoche machende Entdeckung der Wandmalerei von Lambach (Demus) hat in der zeitlichen Folge der im weitesten Sinne romanischen Wandmalerei Österreichs (wenn man un mittelbare Nachbargebiete mit einschließt): Naturns (E. 8. Jahrhundert) — Mals (A. 9. Jahrhundert) — Reichenau (E. 10. Jahr hundert) — Lambach (E. 11. Jahrhundert) — Frauenchiemsee, Salzburg, Pürgg (M. 12. Jahrhundert) — Gurk (13. Jahrhundert) die Lücke des 11. Jahrhunderts geschlossen. „Ottonisches" Stilwollen (Erzählung, Wun dertaten, Beseelung) klingt nach, verbindet sich aber mit dem hoheitsvoll Aufgerich teten des „Salischen" (Thronende Mutter-

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