Oberösterreich, 16. Jahrgang, Heft 1/2, 1966

Linus K e f e r Leben auf dem Dorfe Aufzeichnungen aus dem Innviertel Abbildungen nach Originalen von Wilhelm Dachauer Ende Mai. Immer noch wache ich so früh auf, um zwei oder drei, nicht mehr jede Nacht wie am Anfang, aber immer noch sind es andere Orte, wo ich erwache, meistens sind es gar keine Orte, Gegenden irgendwo, in Frankreich oder Rußland oder in Polen, in Litauen oder Ostpreußen, an einer Küste zum Beispiel, unten leuchtet das Meer in einem grünen Feuer durch die Nacht, Noctiluca, sagt einer, eine Alge ist das, eine Geißelalge, das ganze Meer ist voll davon, Myriaden, er wird Naturwissenschaft studieren, später, aber drüben ist Dover, und plötzlich ist der Teufel los über uns, und nachher sagt niemand mehr Noctiluca, Meeresleuchten; manchmal ist es nur ein Acker, über den Panzer heranrollen, oder es ist das Eichenwäldchen auf dem Hügel, irgendwo in Rußland, von den Weizenfeldern weht der Geruch nach verwesenden Kör pern herauf, acht oder zehn sind wir, es ist Morgen, und dann rumpst es ein wenig, und zu Mittag sind vier Portionen übrig, und das Eichenlaub riecht bitter, oder es ist ein Lauf graben, und der Feldwebel Ballasko, der aus Wien stammt, sagt, ein paar Wochen noch, dann, und dann verschlägt es ihm die Rede, und wir decken ihn mit seinem langen ledernen Mantel zu, wenn sie ihn wegbringen, ist er steif gefroren; oder es ist im Hafen von Danzig, im Bauch des alten Dampfers, der Bauch ist vollgestopft mit Leibern wie mit blutigen Maden, und er rollt durch die neblige Nacht gegen Jütland, und es ist März, und jetzt ist es Mai, und ich erwache immer noch in diesem Bauch, dem keiner zutraut, daß er Jüt land erreicht, und ich fahre auf, sitze im Bett, und vor dem winzigen Fenster zieht die Nacht, und in einem Quadrat des eisernen Fensterkreuzes steht ein Stern, und eine Amsel läßt ihre Stimme hören, ich horche hinaus, und jetzt höre ich auch das Wasser vor dem Haus, wie es gurgelt und gluckst und schwatzt mit hundert Stimmen, und dann höre ich den Atem der Kinder gehen, gleichmäßig und ruhig, immer noch sitze ich, und dann meldet sich der erste Hahn,und ein zweiter kräht zurück, warum bin ich wach, frage ich mich, der Hahn ist es, sage ich mir, aber es ist nicht der Hahn, ich bin vor ihm wach gewesen, und nun steige ich aus dem Bett und ziehe mich an, rasch und lautlos, ich brauche kein Licht dazu, ich gehe auf den Zehen durch die Schlafkammer, aber die alten Bretter des Fußbodens knarren doch, es ist noch so früh, höre ich meine Frau sagen, es wird schon hell, erwidere ich, auch die Türe knackt, wenn ich die Klinke zudrücke, vielleicht sind die beiden Schwalben davon erwacht, sie strecken die Köpfe aus dem Nest, das sie an den Balken unter der Decke gebaut haben, für sie bleibt das Fenster auf der Diele Tag und Nacht offen, jeden Morgen erwarten wir die Jungen, die Diele ist so nieder wie Stube und Kammern, man kann ohne Mühe in das Nest hineinsehen, vier Eierchen lagen gestern drinnen. Es ist ein altes Haus, aber kein Bauernhaus, ein Altenteil, ein Viertelhaus ist es, vor einem Jahr ist die Altbäurin heraus gestorben, die Maridi, die Enkelin, hat ihr Milch und Mehl und Eier ins Ausgeding gebracht, und Fleisch vom Schwein, wenn geschlachtet wurde. Jetzt bewohnen wir es, Leute aus der Stadt. Unten ist es aus Steinen gemauert, dicke Wände mit tiefen Fensternischen, auf denen der Kater sich sonnen kann, der Oberbau ist aus Holz, aus Stämmen, die genau bebauen und dicht gefügt sind, an der Vorderseite läuft der hölzerne Balkon die Wand entlang, Schrot, sagen sie dazu, hier hängen im Plerbst die Zwiebeln, zu langen Zöpfen geflochten, unterm Dach zum Trocknen. Der Schlüssel zur Haustüre ist eine Spanne lang und so alt wie das Haus und der schwere, vom Gleiten glattpoherte hölzerne Riegel, den man, wenn es Nacht wird, an einem eisernen Ring aus der Mauernische herauszieht. Rechts geht es in die Stube, wo der Herd steht, an der Wand die Bank, braungestrichen war sie einmal, aber das ist lange her, jetzt glänzt das helle Holz an den Kanten, im rechten Winkel zu ihr läuft eine zweite von der anderen Seite herzu, dort steht der Eßtisch, im Herrgottswinkel darüber zwei Hinterglas bilder, der heilige Florian, der das Feuer löscht, und der heilige Georg, der den Drachen tötet, ein Sofa ist da. Anrichte und Kredenz, das Stockerl mit dem Wassereimer neben dem Herd, im Ofenloch das dürre Klaubholz, die Tannenzapfen mit harzigem Duft, ein wackeliges Tischchen noch,zwei Sessel, auf dem Türstock mit Kreide 19-b K+M + B + 45. Überm Tisch die Petroleumlampe, für den Abend, wenn es dunkel wird. Links von der Haustüre das kleine Fenster, die hölzerne Stiege hinauf zur Diele, gegenüber der Schlafkammer eine andere, kleinere Kammer, voll mit Gerümpel, alte Schachteln, Statuen, Kommunionbilder, Hochzeitsbuschen und Myrtenkränzchen, die vergangene Zeit. Unten im Vorhaus, gegenüber der Stube, die Vorratskammer, dort sind die Fenster mit Drahtgittern versehen, ein eng maschiges Geflecht gegen Maus und Katz', der Boden ist mit Steinplatten ausgelegt, darauf bleibt die Milch frisch und die Butter fest, auch im heißen Sommer. Die Tür zum Schup pen ist versperrt, zugenagelt auch mit Latten und Brettern, die Alte hat sie niemals benötigt. Im Schuppen der Heustock, zusammengeschrumpft schon, Wagen und Gerät und Kleehiefel. Spinnweb' und Fledermaus. Hinter der Scheune die Wiese, der Baumgarten, Äpfel, Birnen, Zwetschken, ein ur alter heiliger Holunder lehnt sich an die Wand, wo die Dach traufe ist, neben der Einfahrt in den Schuppen der gewaltige Nußbaum, seine grüne Krone hoch übers Haus hinaus er hoben, ein Stück abseits die Senkgrube, darüber der Abtritt, das Häusl, Herz und Astloch in der Tür, so kann man die Zeitung lesen oder hinausblicken auf die Straße, hinunter zu den Höfen der Bauern. Vor der Bienenhütte der Wurzgarten, hier zog die Altbäurin ihre Suppenkräuter und Blumen, Ringelblume und Phlox und im Herbst die leuchtenden Astern, rote und blaue. Jetzt tun wir das. Es ist noch sehr still im Weiler, doch der Stern beginnt zu ver blassen, im Osten wird es schon hell. Die Luft weht kalt und rein, es wird einen schönen Tag geben. Ich bin barfuß, seit ich hier bin, geh' ich barfuß, so kann ich die Erde spüren, feucht oder trocken, warm, weich, steinig, das Gras und das Moos und den Waldboden, ich laufe auch jetzt barfuß, aber ich bin gewitzigt vom ersten Mal, ich nehme mir die Sandalen mit und im Hosensack die wollenen Militärsocken, ich laufe den Wiesenhügel hinauf, ich muß mich warmlaufen, der Tau schneidet scharf in die Füße, ich muß schneller laufen, oben der Riese, der Rauhbirnbaum, den hat der Urgroßvater vom Hafter gepflanzt, drei oder vier gibt es im Weiler, niemand kann sagen, woher die Alten sie gebracht haben, links am

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