20. Jahrhundert angekündigt. Dennoch blieb der Lebensrhyth mus in dieser Stadt im wesentlichen unverändert, wenngleich die Bevölkerungszahl von Jahrzehnt zu Jahrzehnt stieg. 1890: 65.129 1900: 83.402 1910: 97.885 1923: 107.460 1938: 112.166 Mit diesem Jahr 1938 begann die Industrialisierung stürmische Formen anzunehmen, besonders durch die jetzigen Vereinig ten österreichischen Eisen- und Stahlwerke (1938) und die österreichischen Stickstoffwerke (1942). Mit diesen staatli chen Gründungen, die zur Erfüllung von Produktionsprogram men im „Großdeutschen Wirtschaftsraum" geplant und be stimmt waren, wurden alle bisherigen vom organischen Wachstum bestimmten Linzer Dimensionen gesprengt. Das bedeutet: mit dem Eintreten dieser Werke der Schwer- und der chemischen Industrie, deren Ansprüche vom Tag des Baubeginns an das Eeistungspotential der ortsansässigen Be völkerung überfordert haben, verloren die gewohnten Linzer Maßstäbe ihre allgemeine Gültigkeit, und neue soziale Kräfte und Kräfteverhältnisse begannen, auf Milieu und Wesen der Stadt einzuwirken. Mit der alteingesessenen Gesellschaft und ihrer — trotz steigender sozialer Spannungen — relativ har monischen Lebensordnung mußte es nun zu Ende gehen. Linz konnte sich nicht begnügen, mehr oder weniger patriar chalisch-gemütliches Verwaltungs- und Geschäftszentrum eines Agrarlandes zu bleiben. Mit dem Entstehen der Großindustrie setzte in Linz eine sich rasch verstärkende Zuwanderung von Arbeitskräften aller Art ein. Die eingeborenen Linzer spürten zunehmend deutlicher, daß sie nicht mehr unter sich waren. Die Zahl der Einwohner stieg rasch: 1939: 121.071 1940: 142.092 1941: 156.517 1942: 172.144 1943: 185.496 1944: 190.935 1945: 194.186 Die Bevölkerung stieg also jährlich in einem Maße, das unge fähr dem Wachstum innerhalb eines Jahrzehnts vor 1938 entspricht. Die sozialen Nebenerscheinungen, die ein solcher Zuzug in einem Gemeinwesen hervorrufen muß, wurden in Linz be sonders stark empfunden, weil es die Bedingungen des Krie ges mit sich gebracht hatten, daß viele dieser neuen Ar beitskräfte Landfremde waren, die nach äußerer Erscheinung, Wesen und Sprache sich von der altansässigen Bevölkerung deutlich abhoben. Daß ein beträchtliches Kontingent dieser Fremdarbeiter kaum freiwillig nach Linz übersiedelt war und hier gar nicht heimisch werden wollte, sondern diesen Auf enthalt als befristete Ausnahmesituation empfand, mag in vieler Hinsicht dazu geführt haben, daß die ursächlich damit verbundenen sozialen Probleme mehr oder weniger unbeach tet geblieben und auf die Lösung der vordringlichsten organi satorischen Notwendigkeiten reduziert worden sind. Zu den neuen Produktionsstätten mußten Wohngebiete er schlossen, Siedlungen gebaut und Barackenlager errichtet wer den. An Linz begann sich eine Veränderung zu vollziehen, die gar manche alte Linzer zu dem Stoßseufzer bewegte, sie kennten ihre Linzerstadt nicht mehr. Der Höhepunkt dieser verwirrenden Entwicklung wurde 1945 erreicht und von unzähligen Menschen schicksalhaft erlitten. Etwa 40.000 Fremdarbeiter, die in der Linzer Industrie be schäftigt waren, drängten in ihre Heimatländer zurück. Die sich entleerenden Barackenlager füllten sich sogleich mit Volksdeutschen Flüchtlingen aus dem Donauraum, mit sude tendeutschen Vertriebenen und österreichischen öbdachlosen. Im Juli 1945 gab es rund 60.000 solcher Flüchtlinge, die in Lagern wohnten; Ende 1945 waren es noch immer 35.000 Personen. Als sich diese außerordentliche Bevölkerungsbewe gung 1946 einigermaßen normalisiert hatte, wurden in Linz 175.196 Einwohner gezählt. Hier nun müßte eine soziologi sche Untersuchung einsetzen, die sich mit einer Analyse der Linzer Nachkriegsentwicklung, das heißt mit der eigentlichen Wandlung des provinziellen Verwaltungs- und Geschäftszen trums zur Industriegroßstadt befaßt. Die nach fünfzehn Luftangriffen auf Linz hart angeschlage nen Industriewerke wurden zügig auf- und ausgebaut, die Produktionen wieder in Gang gesetzt, und großer materieller Schwierigkeiten zum Trotz wirkte sich eine optimistische Initiative zur Ausweitung der Produktionskapazität von Jahr zu Jahr stärker aus. Etwa von 1950 an ist der sogenannte Wiederaufbau nicht nur im Sinne der Reparatur des Zer störten, sondern als gesteigerte Weiterführung einer bewußt eingeleiteten industriellen Entwicklung zu verstehen. Im Ausmaß ihres Erstarkens zog die Industrie zunehmend Arbeitskräfte nach Linz. Nun waren es im allgemeinen keine Ausländer, keine Fremdarbeiter mehr, wohl aber volks- und sudetendeutsche Flüchtlinge, die in Linz einwurzelten,und vor allem einheimische öberösterreicher aus der näheren und wei teren Umgebung der Kernstadt, also aus der Linzer Stadtre gion, aus dem Ergänzungsgebiet und aus der verstädterten Zone. Damit traten zwei Erscheinungen von beträchtlicher soziologischer Bedeutung in den Vordergrund: 1. die Gruppe der Neubürger, die — im Gegensatz zu den Fremdarbeitern — in Linz bleiben und zur ständigen Be völkerung gehören wollen; 2. die Gruppe der Pendler (Tages- wie Wochenpendler), die zwischen Wohnort und Arbeitsplatz beträchtliche Ent fernungen überwinden müssen, die zu verkürzen in vielen Fällen dringlich gewünscht wird. Das heißt: ein Teil der Pendler bildet ein sich immer wieder ergänzendes Reser voir nachdrängender Neubürger. Allein aus diesen beiden Punkten erwächst der Stadt Linz eine Fülle sozialer Probleme, die behandelt werden müssen und deren Lösungen die Stadt als architektonisches Gebilde und als funktionierender örganismus stetig verwandeln. Dieser Zwang zur Verwandlung ging (und geht noch immer) von der wachsenden Zahl der an der Industrialisierung be teiligten Menschen aus. Er müßte also am Bevölkerungsstand von Jahr zu Jahr förmlich meß- und ablesbar sein, wenn sich das Kraftfeld der Industrie mit der politischen Stadtgrenze deckte. Da das nicht der Fall ist, weil die Anziehung der Industrie weiter hinaus wirkt, müßten viele Nachbargemein den ganz oder teilweise in die Beurteilung einbezogen wer den. Doch selbst wenn wir uns auf das Stadtgebiet be schränken, so zeigt sich, daß in dem als Ausgangspunkt einer Analyse der Linzer Nachkriegsentwicklung vorgeschlagenen Jahr 1946 die Einwohnerzahl etwa jener von 1942/43 ent sprach. Eine Rückkehr zum gesellschaftlichen Status der Stadt vor 1938 wäre — selbst wenn man gewollt hätte — schon deshalb nicht möglich gewesen. Vor sozioökonomischer Rea lität können romantische Illusionen und biedermeierliche Sen timentalitäten nicht bestehen. Man hatte also in Linz nach dem Ende des zweiten Welt krieges keineswegs eine Wahl, den Prozeß der Industriali sierung abzubrechen oder nicht, sondern sah sich gezwungen, die Entwicklung in der einmal eingeschlagenen Richtung fort zusetzen. Tatsache ist allerdings, daß diese Aufgabe keines wegs als Zwang empfunden wurde. Vitalität und Tempo der vielseitigen Entfaltung bestätigen das eindrucksvoll. Politische Vernunft und soziale Verantwortung gebieten, daß mit der Industrialisierung zugleich die Humanisierung ihrer Folgeerscheinungen Schritt halte. Geschieht das nicht, dann wird aus der freundlichsten Siedlung nur zu bald eine trost lose Steinwüste und schwarze Fabrikstadt, in der die Mehr zahl der Menschen verproletarisiert oder — im Falle materiel len Wohlstands — unaufhaltsam jener konformistischen in neren Verödung verfällt, die wir Vermassung nennen. Wer Proletarisierung und die gesellschaftlich weit darüber hinaus reichende Vermassung bekämpfen oder sogar vermeiden will. 36
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