Oberösterreich, 11. Jahrgang, Heft 3/4, 1961

T A B O R - VERGANGENHEIT UND G EG E NWART Zur Vorbereitung des Erlebnisses „Steyr" ist ein Weg hinauf zum alten Feuerwachtturm „am T a b o r der einst zur Stadtbefestigung gehörte, heute dem friedlichen Zweck eines Restaurants gewidmet ist, besonders zu empfehlen. Die vieU leicht etwas trockene Lektüre eines Stadtführers wird hier zum lebendigen Eindruck. Die erklärenden Worte des Stadt= historikers gewinnen angesichts des großartigen Tiefblicks auf das Dächergewirr und des nicht minder ergreifenden Fernblicks in die Landschaft um Steyr faßbare Gestalt. Die moderne Umwandlung in einen Gaststättenbetrieb geschah mit viel Einfühlungsvermögen, so daß der Gast Vergangen^ heit und Gegenwart in den Räumen des Tabors in unvergeß= lieber Art genießen kann. Versonnen blickt er auf die als Wandschmuck angebrachte Reproduktion des historischen Stiches aus dem Jahre 1554 von Hans Sebald Lautensack. Sie zeigt das alte, wehrhafte Steyr mit den markanten Punkten der Stadtpfarrkirche und der „Stirapurg", mit dem bürgerstolzen Stadtplatz. Die Stadt= chronik berichtet, daß um die Zeit, da dieser Stich aufgenom= men wurde, die Befestigungsanlagen der Stadt auch auf die Vorstädte Ennsdorf und Steyrdorf ausgedehnt wurden. In Steyrdorf entstanden das Gleinker=, Schuhboden= und Frauen= tor, ebenso das „kapellenartige Wachthaus am Tabor" (Josef Ofner, Die Eisenstadt Steyr, Steyr 1956L Unversehens gleitet der Blick von der Vergangenheit wieder zurück in die Gegenwart. Was die Chronik beschreibt, liegt gegenwärtig vor dem entzückten Blick des Beschauers. Türme und Giebel grüßen zu ihm empor. Die Stadt breitet sich wie ein großes „Heimathaus" zu seinen Füßen. Mit steigendem Interesse setzt er seinen Rundblick fort. Er erkennt, daß hier eine geschickte Stadtplanung am Werk ist. Die Industrie, die seit dem 19. Jahrhundert Steyr in der Welt einen neuen Namen verschafft hat, vermengt sich nicht störend mit dem Alten. Sie wurde in geschlossenen Neubau= vierteln abgesetzt, behindert nicht die historische Silhouette und ist doch organisch mit dem Altbestand verbunden. Man muß die begeisterten Ausrufe ausländischer Gäste gehört haben, wenn sie am Tabor standen, diesen Eindruck in sich aufnahmen und die Stadt ob ihrer Gesamtanlage im Vergleich zu anderen Industriestädten mit beredten Worten glücklich priesen. Der Weg zum Tabor schenkt somit ein Erlebnis, das kaum eine andere Stadt bieten kann. Der gastronomische Genuß — er ist übrigens vorzüglich und eine Steyrer Spezialität für sich — wird gleichzeitig zur kulturgeschichtlichen Schau. Das Wort vom Augenschmaus bekommt köstlichen Doppelsinn.

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