Oberösterreich, 11. Jahrgang, Heft 1/2, 1961

GERHARD SCHMIDT Frühgotische Kunst in Oberösterreich Daß wir mit diesen Zeilen die Aid'merksarnkeit des Lesers auf die frühe Gotik Oberösterreichs hinlenken, recht fertigt sich aus der Bedeutung dieser Landschaft und ihrer künstlerischen Leistungen gerade in dem fraglichen Zeitraum, der etwa das Ende des 13. und die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts umfaßt. IDenn während die gotische Kunst in ihrem nordfranzösischen Entstehungsgebiet schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts eingesetzt und zu Beginn des 13. Höchstleistungen hervorgebracht hatte, die wir heute als „klassische" Formulierungen des neuen Stiles empfinden, blieb die Kunst des österreichischen Donaulandes noch durch mehr als hundert Jahre älteren Traditionen verpflichtet. Doch als, um 1260/70, auch hier die große Wende begann, scheint man sich in dem Lande ob der Enns früher und entschiedener nach den neuen westlichen Leitbildern orientiert zu haben als etwa in den Alpengebieten oder selbst in Niederösterreich, dessen kultureller Schwerpunkt im Raum von Wien und Klo sterneuburg nicht nur an der äußersten östlichen Periy S. pherie Mitteleuropas, sondern zugleich auch im Strahlungsbereich der oberitalienischen und, fallweise, der böhmischen Kunst lag. Eine führende Rolle dürfte zunächst das Chorherrenstift St. Elorian gespielt haben: Im Jahre 1291 wurde hier die neuerbaute Stiftskirche geweiht, von der wir annehmen können, daß sie mit bedeutenden Wand- und Glasmale reien ausgestattet war. Die seit der Wende zum 14. Jahr hundert in St. Florian tätige Buchmalerwerkstatt ver dankte ihre ersten Impulse ganz offenbar denselben Mei stern, die vorher diesen Sakralbau ausgeschmückt hatten und die auch noch in den folgenden Jahren als Wand maler im Donauland wirkten. So geht der eindrucksvolle Freskenzyklus der Göttweigerhof-Kapelle zu Stein an der Donau auf die gleichen Künstler zurück, die damals die ersten frühgotischen Miniaturen der St. Florianer Stifts bibliothek schufen: den Honorius-Kommentar zum Hohe lied (1301), die Armenbibel (um 1310) und einige Mis salien, von denen jenes, das der spätere Propst Heinrich von Marbach eigenhändig geschrieben hatte, das schönste ist. Diese Werke sind durchwegs von ungewöhnlich hoher Qualität und dürfen ohne Anmaßung mit den besten deutschen Miniaturen ihrer Zeit (etwa mit der bekannten Manesseschen Liederhandschrift) in eine Reihe gestellt werden. Was sie aber für den Historiker besonders reiz voll macht, ist die Unniittelbarkeit, mit der sie Anregun gen aus dem westeuropäischen Kunstkreis spiegeln. Der Honorius von 1301, das Marbach-Missale und die Steiner Fresken belegen ganz eindeutig, daß diese erste Gene ration der St. Florianer Maler engste Beziehungen zu der Pariser Hofkunst des späten 13. Jahrhunderts unterhielt. Weder im Wiener Bereich, noch im übrigen Österreich, ja nicht einmal im Rheinland, läßt sich derartiges zu einem so frühen Zeitpunkt belegen. Doch schon gegen Ende des ersten Jahrzehnts übernah men jüngere Künstler die Leitung der Werkstatt. Die französischen treten nach und nach hinter oberrheinische Anregungen zurück; vor allem die Spitzenkraft der SanktFlorianer Malerschule dieser Jahre, der Illuminator der um 1310 für Kremsmünster ausgeschmückten Bibel des Abtes Friedrich von Aich, hat zweifellos die besten Werke der seeschwäbischen Buchmalerei des späten 13. Jahrhunderts gekannt. Zugleich aber eignen den Miniaturen der Aich-Bibel Qualitäten, die schon als spezifisch donauösterreichisch gelten dürfen. Die bezwin gende Musikalität etwa, die sich in der Flächenverteilung und Linienführung der kleinen Prophetenbilder ausDer hl. Gregor verfaßt das Benedikt-Leben: der hl. Benedikt verläßt Mutier und Schwester und wird von seiner Amme zur Schule gebracht. Aus der .Vita Benedicti' der Pierponi Morgan Library(M 55) in New York; um 1320130. (Foto: Pierpont Morgan Library)

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