ERNST BAUMGARTNER OBERÖSTERREICH IM AUFBAU DER ÖSTERREICHISCHEN WIRTSCHAFT Die Tatsache, daß es möglich ist, über ein einzelnes österreichisches Bundesland eine relativ abgerundete und gültige Darstellung seiner Wirtschaftsstruktur zu geben, bedeutet in gewisser Be ziehung eine Eigenheit, die irgendwie historisch bedingt ist. Die österreichischen Bundesländer haben, wenn auch zum Teil unter wesentlich anderen staatspolitischen, geographischen und rang mäßigen Voraussetzungen, seit jeher ein stark betontes Eigenleben geführt. Die damit in Verbindung stehende Differenzierung der einzelnen Gaue, Grafschaften, Herzogtümer und letzten Endes der einzelnen Bundesländer gegenwärtiger Prägung ist eine Erscheinungsform, die kaum einem anderen europäischen Volke in einem derart profilierten Ausmaß zu eigen sein dürfte wie gerade in Österreich. Zu einem erheblichen Teil mag hiefür maßgebend sein, daß das österreichische Kernland ein Gebirgsland mit zum Teil hochalpinem Charakter ist, eine Landschaftsform also, die schon von Natur aus eine große Anzahl von Voraussetzungen in sich schließt, die eine autarke, auf die eigene Kraft gestellte und auf die inneren Werte seiner Bewohner bedachtnehmende Ge samtentwicklung bedingt. Aus einer jüngsten Untersuchung geht z. B. hervor, daß von den 4035 Gemeinden Österreichs 1637 Berg gemeinden sind, wovon wieder 1016 Gemeinden im Alpenraum liegen. Nur ein Drittel der landwirtschaftlichen Betriebe in den Berggebieten Österreichs ist mit einem Lastauto erreichbar, weitere 60 Prozent können nur mit einem zweirädrigen Pferde fuhrwerk erreicht werden und auch in der Gegenwart stellt für immer noch rund 8 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe das Saumtier das einzige Verkehrsmittel dar. Die daraus resultierende spezifische Erscheinungsform eines stark betonten Eigenlebens der einzelnen österreichischen Bundesländer wird nicht selten unter dem Begriff subsumiert, den wir — und auch das Ausland — landläufig „die österreichische Tradition" nennen. Für gewöhnlich wird man zwar darunter in erster Linie die Summe jener Merkmale zusammenfassen, deren Entstehungs grund mehr auf der emotionell und geistig orientierten Sphäre unserer staatlichen und völkischen Lebensäußerungen basiert. Diese überwiegend in Kultur, Brauchtum und Sitte erschöpfte Seite des Eigenlebens der einzelnen österreichischen Bundesländer hat jedoch noch eine zweite, nicht minder bedeutungsvolle Komponente, die in der Potenz unserer Gesamtwirtschaft be gründet ist. Auch im Gesamtablauf unseres Wirtschaftslebens hat die früher erwähnte „Tradition" Sonderformen zur Entwicklung gebracht, die charakteristisch für das einzelne Bundesland sind; eine Feststellung, die für Oberösterreich in ganz besonderem Maße zutrifft. Über verschiedene Wirtschaftsepochen hinweg hatte die Wirtschaft Oberösterreichs ihre Kraft seit jeher vor allem aus einem boden ständigen Gewerbe, einer der Scholle verbundenen Bauernschaft und einer in Jahrzehnten gewachsenen Industrie geschöpft und von diesen Wirtschaftszweigen auch diejenigen Impulse erhalten, die für eine Aufrechterhaltung des Erreichten und für eine be scheidene Entwicklung erforderlich waren. Etwa bis zum Beginn des ersten Weltkrieges war Oberösterreich ein betont agrarisches Land. Von den rund 850.000 Einwohnern Oberösterreichs im Jahre 1910 waren etwa 398.000 Personen oder 46,6 Prozent der Landwirtschaft zugeordnet. Die Zahl der dem Gewerbe und der Industrie zuzuzählenden Personen betrug damals rund 223.000 Personen oder 26,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die korre spondierenden Vergleichszahlen für ganz Österreich (eingeschränkt auf die Größenverhältnisse der Gegenwart) lauteten dagegen bei einer Gesamteinwohnerzahl von 6,646.000 Personen wie folgt: Der der Land- und Forstwirtschaft zuzuordnende Bevölkerungs anteil betrug 2,078.000 Personen oder 31,3 Prozent, der der Industrie und dem Gewerbe zuzuordnende Bevölkerungsanteil 2,148.256 Personen oder 32,3 Prozent. Von der Bevölkerung Oberösterreichs waren somit im Jahre 1910 15 Prozent über dem österreichischen Gesamtdurchschnitt der Landwirtschaft und 6 Prozent unter dem Durchschnitt der Industrie und dem Ge werbe zugeordnet. Im Jahre 1934 waren schon kleinere Verschiebungen feststellbar, die eine Änderung in der Beschäftigtenstruktur im Sinne der Landflucht erkennen ließen. Der der Landwirtschaft zuzuord nende Bevölkerungsanteil ging bei einer nunmehrigen Bevölkerung Oberösterreichs von rund 902.000 Personen auf 337.630 = 37,4 Prozent zurück, während der industrielle und gewerbliche Anteil bereits auf 29,2 Prozent angestiegen war. Doch noch immer lag der landwirtschaftliche Anteil Obei Österreichs um 10 Prozent über dem österreichischen Durchschnitt, währenddem der in dustrielle und gewerbliche Anteil noch 2 Prozent darunter lag. Die markanteste Industrialisierungsperiode der oberösterreichi schen Wirtschaft begann jedoch erst im Jahre 1938 und hielt mit unverminderter Expansion bis zum Jahre 1945 an. In diesen Zeitraum fielen zahlreiche Umschichtungen und Neugründungen, die die Wirtschaftsstruktur unseres Bundeslandes von Grund auf änderten. Die einzelnen Phasen dieser stürmischen Entwicklung mögen durch einige Daten in Erinnerung gerufen werden: Erbauung der Hütte Linz mit Grobblech-Walzwerk, Stahlbau, Graugießerei, Stahlgießerei und Panzerwerk. Dem damaligen Konzept entsprechend, war die Errichtung von insgesamt zwölf Hochöfen geplant, von denen jedoch bis 1945 erst insgesamt sechs montiert waren; Errichtung der Stickstoffwerke Linz, des Zellwollwerkes in Lenzing, Erbauung des Kugellagerwerkes Steyr-Münichholz, Ausbau der Steyr-Werke für die Erzeugung von Personen- und Lastkraftwagen, Traktoren und Waffen, Errichtung des Aluminiumwerkes Ranshofen, Bau des Flugzeug werkes Wels sowie Anlage der Flugplätze Hörsching und Wels. Außerdem wurden im gleichen Zeitraum etwa dreihundert Be triebe aller Art aus den Sudetengebieten, aus Schlesien, West deutschland, Wien und Niederösterreich in den oberösterreichi schen Wirtschaftsraum verlagert. Diese forcierten Maßnahmen einer Industrialisierung des Raumes von Oberösterreich führten zwangsweise zu einer Zusammen ballung von Produktionsstätten aller Größenordnungen und setzten damit die Wirtschaft unseres Bundeslandes in ganz be sonderem Maße der Zerstörung durch kriegerische Einwirkungen aus. Als die typischen Industrieländer Österreichs galten bis dahin die Bundesländer Wien samt Umgebung sowie Nieder32
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