(Kulturzeitschrift) Oberösterreich, 5. Jahrgang, Heft 1/2, 1955

li I i ,r.) ~ Jft,.:h v"" Menschen anzurufen und es im selben Augenblick zu mißbrauchen. Ein kurzer Brückenweg läuft jetzt von der breiten Straße zur Uni- versität ab. Die Altstadt mit ihren traulichen Gassen und Gängen beginnt. Und hier, wo noch jedes Haus um die gütige Stille einer Stunde zu wissen scheint, jedes Fenster, jeder Giebel, meint die Studentin: ,,Fällt Ihnen nichts auf? Daß Sie schweigen: fällt es Ihnen nicht auf?" Amreich dreht das Gesicht zu ihr hin, streift sie mit einem Blick, sagt: ,,Ich will noch einmal zurück auf die laute und breite Straße. Ich weiß nicht, aber es soll wohl so sein. Ob sie mitkommen?" Sie verneint entschieden. ,,,t\Tie sollte ich das!" erklärt sie. ,,Sie wissen doch, wie ich über die Dinge denke." Und über eine Weile, als seine Antwort nicht kommt, fügt sie hinzu: ,,Oder wollen Sie etwa, daß der Mensch in mir noch ärmer wird?" ,,Ärmer?" horcht er. Und nun rührt er nicht nur an die Dinge. Er bedeutet: ,,Wer jung ist, ist nicht arm. Arm ist der, dessen Stimme so fremd und fern klingt, als komme sie nicht aus ihm. i\uch sie sprechen mit einer solchen Stimme. Oder ist es Ihnen noch nicht aufgefallen?" Hier hält sie plötzlich den Schritt an, die Hand öffnet sich, als ob sie nach etwas greife, nach der fremden und fernen Stimme vielleicht. Auch das Gesicht öffnet sich langsam. Sie blickt Chri- stian Amreich an, das erste Mal aus gesammelten Augen. Er fühlt den Blick, es ist wie ein Hauch, der über sein Gesicht gleitet, und er möchte am liebsten seine Hand in die offene des Mäd- chens legen, um ihr zu sagen, wie wunderbar der Augenblick ist. Aber er braucht es nicht zu sagen, sie selbst weiß um das Wunder- bare, um die Gnade dieser Begegnung. Und als könnte es nicht 23 anders sein, geht sie mit ihm zurück: auf die laute und breite Straße, um hier dem Schicksal am Rande des Weges n_achzu- spüren, jenem Schicksal, das sie vor kurzem noch verlacht und dabei nicht geahnt hat, wie bestimmend es in ihr Leben ein- greifen sollte. Schweigend erreichen sie die Stelle, wo Amreich vorhin dem Schicksal begegnet war. Und als hier der Mann nicht mehr zu sehen ist, gehen sie weiter, ohne daß etwas Macht haben könnte, sich zwischen sie zu drängen, der Gedanke vielleicht, sie hätten dies alles nur geträumt und es sich so schön zusammengereimt. Amreich aber blickt im Weitergehen jedem Menschen ins Gesicht und er horcht jeder Stimme nach, wünschend, die eine Stimme, die ihn hier angerufen, noch einmal zu hören, um dann mit einer Frage oder einem leisen Wort hineinzuleuchten in das Geheimnis der zwei Augen. Er wünscht es und weiß nicht, wie bewegt, ja in der Seele ergriffen er wenige Schritte später vor dem Manne stehen werde. Es geschieht. Der Mann kommt auf ihn zu, zieht den Hut und hält ihn in der Hand mit der gleichen Gebärde wie vorhin. ,,Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, junger Herr, aber ich bin kein Bettler. Die Kleinigkeit jedoch, die sie mir in den Hut getan haben, will ich gern behalten. Sie soll mir immer wie ein schöner, lieber Gruß sein von jenem Menschen, dem ich in Ihnen begegnet bin. So nämlich hat mein Sohn ausgesehen, von dem es heißt, daß er gefallen ist. Bitte, sagen Sie nichts", wehrte er sanft ab, als Am- reich etwas einwenden will. ,,Bitte, sagen Sie nichts. Lassen Sie mir den Glauben, daß ich in das Gesicht meines Sohnes gesehen habe." Damit umfaßt er kurz Amreichs Schulter und dreht sich dann I j rasch ab, um wieder unterzutauchen in den Menschenstrom, aus dem er gekommen war. Die Studentin aber, obwohl sie die Augen geschlossen hält, kann die Tränen nicht halten, denn Tränen finden den Weg auch unter geschlossenen Lidern.

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