(Kulturzeitschrift) Oberösterreich, 5. Jahrgang, Heft 1/2, 1955

~er Student Christian Amreich ist unterwegs zur Universität. Er sieht das Bild der Straße, das gestern nicht anders war wie es heute ist, ein Strom, in dem ein Mensch an dem anderen vorüber- treibt, ein Leben an dem anderen, ein Schicksal an dem anderen. Kaum daß man mit einem Blick das Auge eines Menschen streift, ist man schon wieder weiter und wieder allein. Der Student Amreich denkt es und hört plötzlich eine Stimme, die ihm gelten könnte. ,,Guten Tag, junger Herr!" spricht die Stimme, und als Amreich aufmerkt, sieht er sich auf einmal wie hineingerückt in den Kreis eines Schicksals. Den vor ihm, am Rande des Gehwegs, steht ein Mann, ärmlich gekleidet und ein wenig gebeugt über den offenen Hut, während in seinem Gesichte, wie es scheint, nur noch die zwei Augen leben. Ein Bettler, ver- meint Amreich und wirft ihm ein paar Groschen in den Hut. Ihm fällt nicht auf, daß der Mann sein Vergeltsgott! nicht murmelt, daß er auch nicht nickt. Der Student sieht nur die Augen Mannes in irgend einer Form verhaftet? Amreich schaut hierhin und dorthin, ob nicht jemand kommt, den er kennt, ein Student, eine Studentin, ein Professor. Es müßte doch sein, daß einer von ihnen um dieses Schicksal am Weg hier weiß. Oder gehen alle an ihm vorüber, ohne zu ahnen, daß auch sie ärmer werden können mit jedem Schritt? Es fügt sich, daß ihn ein Mädchen überholt, eine Medizinstuden- tin. Er hat sie schon oft gesehen, im Kolleg, auf der klinischen Station und auch in der Mensa manchmal, ohne sie freilich näher zu kennen. Denn auch unter Studenten ist es nicht selten so, daß sie durch die Auditorien und Institute gehen, ein Semester, zwei Semester, acht Semester, ohne am Ende sagen zu können, wer denn der eine war und wer der andere. Sie sind aneinander vorübergegangen, sie sind sich nie begegnet. Doch daran denkt Amreich jetzt nicht, er spürt nur, wie es ihn drängt, den Schritt zu beschleunigen, als sei auch die Studentin schon einmal von illusfrierfvon frifz fröhlich ITTEN- EIN MENf(H m dem merkwürdigen Gesichte, die da leben, als bettelten sie weiter: als verlangten sie noch ein kleines mehr, so viel wohl, daß es ausreicht für den nächsten Schritt in einen besseren Bettlertag. Da öffnet Amreich noch einmal sein Geldtäschchen. Und obwohl er für gewöhnlich jeden Groschen auf dem Handteller umdreht, weil ein selbstverdienter Groschen ja doppelt wiegt, wählt er nun ein größeres Geldstück und läßt es zu den anderen in den Hut fallen. Das gibt einen kleinen Klang. Als aber der Mann am Rande des Gehwegs auch jetzt den ein wenig vorgestreckten Hut nicht zurückzieht, steht Amreich eine Weile wie hilflos vor der sonder- baren Gebärde dieses Menschen. Er möchte etwas sagen, ein Wort, nicht wie man es zum Troste sagt, weil ja auch ein Trost- wort zuweilen weh tun kann. Es müßte ein ·wort sein, das einen helleren und dauerhafteren Klang gibt als ein Geldstück. Amreich weiß, daß jetzt ein solches Wort gut wäre, er fühlt es, er lebt es, die Lippen formen es schon; aber das Wort fällt nicht, es will nicht fallen. Und also umschließt er mit seinen Blicken noch ein- mal das Gesicht des Mannes und geht, um sich wieder hinein- zufügen in den Menschenstrom, aus dem er ein paar Herzschläge lang herausgehoben zu sein schien. Indes, auch hier will es ihm vorkommen, als gingen die Augen des Mannes mit ihm, als seien sie überall, wo er hinblickt, und auch die Stimme sei immer wieder da, nicht wie ein Gruß, sondern wie ein leiser Anruf: ,,Guten Tag, junger Herr!" Was ist es um den Mann, um die Stimme, um die Augen? Und was mag es um die Begegnung sein? Ist er dem Schicksal dieses dem Schicksal am Weg hier angerufen worden und sie habe dann jenes Wort gefunden, das ihm, Amreich, nicht hat einfallen wollen. Er geht schneller, holt die Studentin ein, fragt. Ob ihr nicht viel- leicht der Bettler aufgefallen sei? Und als die Studentin, ihn kaum beachtend, schweigt, spricht er weiter, bezeichnet näher die Stelle, wo der Mann stehe, und versucht dann, das Merkwürdige in den Augen des Bettlers zu benennen. Er umschreibt es, meint, daß ein Blick aus diesen Augen mehr gebe, als man mit dem stattlichsten Geldbeutel bezahlen könne. Und wenn man dann weitergehe, be- gleitet von den Augen, weil man sie nicht vergesse, sei man geneigt zu glauben, es sei eine Gnade gewesen, diesen Augen begegnet zu sein. ,,Gnade?" lacht die Studentin, als habe er einen Scherz gemacht. ,,Gnade?" wiederholt sie. ,,Haben sie es denn noch nicht ge- merkt, daß es Naturen gibt, die ihre Augen gleichsam zu Werk- zeugen machen, um die Herzen und .mehr noch die Hände der Vorbeigehenden zu öffnen! Und wissen Sie noch nicht, daß schon so mancher Bettler mit einem abgeschabten Hut und einem frommen Augenaufschlag reicher geworden ist, als ein Vergel ts- gott es ausdrücken kann! Ist auch das eine Gnade?" Es geschieht, daß Amreich ihr nicht widerspricht. Denn je weiter sie anklagt und noch bitterer urteilt, desto stärker -will das be- stimmte Gefühl in ihm werden, daß dieser ·Bettler hier keiner Verteidigung bedarf. Daß er nicht ist wie die vielen, die sich an den Rand des Gehsteigs stellen oder treppauf und treppab laufen, die Klinken scheuern und die Hände falten, um das Mitleid des

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