Wien - Provinz KULTURGEGENSATZ 0 DER KULTURERGÄNZUNG? Eine kulturpolitische Studie von Ferdinand Kastner Wenn wir zu unserem Unbehagen von den Schwierigkeiten eines Einverständnisses im Schoß der Vereinten Nationen hören und im gewohnten Räsonierton die Unbegreiflichkeit solcher Dissonanz erörtern, sollten wir da nicht mit einem verstehenden Lächeln uns daran erinnern und bekennen, daß wir in einem sehr viel kleineren Bereich auch schwer ein Einverständnis herstellen können? Wir brauchen bloß die zwei Worte Wien - Provinz vor uns hinzustellen, und sofort sehen wir, wie zwei Rauchpilze Giftschwaden von Verkennung und Einseitigkeit aufschießen. Mag bisweilen die Gegensätzlichkeit der Auffassung unter einer Aschendecke schwelen, leicht gibt es Anlässe, wo die Glut einer Feindschaft hoch auffährt, wo das Mißverstehen wie ein Waldbrand um sich greift. Immer wieder entdecken es Vertreter der Länder und der Bundeshauptstadt 28 bei gemeinsamen Tagungen, daß sie auf der anderen Seite Hochmut, ja Hybris einerseits, verletzungsbereite Empfindlichkeit und Gekränktheit andererseits feststellen, und dies unter Menschen, die ansonsten als Bürger einer gemeinsamen Geisteswelt in einem höheren, freieren Reiche daheim sind. Schon das Wortbild „Provinz" löst in einer Vorstellungswelt, die von fixierten Gefühlskomplexen nicht frei ist, bisweilen eine gefährliche Unfreiheit aus. Wenn der Begriff hier c.ennoch - trotz seiner Beladung mit einer falschen und irreführenden Erfüllung - gebraucht wird, so deswegeP, weil er einmal das Problem mit einem Namen nennt, für den wir keinen anderen haben, und weil wir uns freizumachen haben von seinem verwirrenden, herabsetzenden Inhalt. Es gibt ja auch eine durchaus nicht überwundene Betrachtungsart, in deren verächtlichem Blickwinkel die Hauptstadt als biologisches und kulturelles Sammelsurium angesehen wird, womit sich der Gedanke des Unwertes verbindet. Vorurteilsfreie Forschung lehnt. diesen Wertungsstand ab. Es bleibt aber, auch nach der Loslösung der Gegenüberstellung von verkehrtem und falschem Vorstellungs- und Gefühlsballast, die Tatsache bestehen, die wie eine offene Wunde schmerzt und die deswegen nicht früher heilt, wenn Schweigen sie bedeckt. Leider waren es in der Vergangenheit nicht immer Ärzte, die an dieser Wunde rührten, sondern öfter Kurpfuscher und Scharlatane, ja Gaukler der Begriffswelt; daher auch die Verwirrung, die anhält. Kulturgegensatz Wien-Provinz? Schon bei der Nennung des Wortes Kultur fühlt man sich in einem Gestrüpp sehr weit auseinandergehender und oft unklarer Inhalte. Soll man durch das verwachsene' Gestrüpp Pfad schlagen? Wer darf Pfadfinder sein? Ein heikles Ding, ähnlich wie bei einem Gespräch über Kindererziehung oder einer Untersuchung über das Leidensproblem. Leiden ist nur von dem zu verstehen, der selbst hindurchgegangen ist; Eltern lassen nicht gerne die Probleme der Erziehung vom Kinderlosen erörtern, dessen Erfahrungsmangel sie mißtrauen. Auch zur Frage des Kulturgegensatzes Wien-Provinz darf aus der Menge der Kulturerlebenden einer sprechen, der beide Welten an sich verspürt und an dem Riß schmerzlich mitgelitten hat. Aus dem ruhevollen, wirklichkeitstiefen Grund der Provinz in die Vielfalt des Gefüges der Großstadtkultur hineinwachsen, ihre geistige Breite und künstlerische Höhe erfassen, um schließlich aus einem Reifungsprozeß zu einer Aufhellung des Blickes für beide Richtungen zu gelangen, gibt eine lebenskreismäßig geschlossene Kulturerfassung und die Voraussetzung für den Standpunkt leidenschaftsloser Stellungnahme. Geht es diesem Standpunkt um Anerkennung oder Ablehnung einer Stellung, um Parteinahme oder Verkleisterung eines Risses? Keineswegs; denn bei klarer Betrachtung verwischen sich die eingeschworenen und eingefrorenen Klischees von Gegensätzlichkeiten zwischen Wien und Provinz und übrig bleiben Andersartigkeiten, die nicht miteinander in Streit liegen. Wien und Provinz haben in ihrer Kult u rl eist u n g und -b edeutung manches gemeinsam, sind aber verschieden, weil Herkunft, Entfaltung und Ziel der Kultur in beiden anders geartet ist. Von vorneherein sei in unserer Betrachtung jede Verwechslung des Begriffes Kultur mit zivilisatorischen Erscheinungen oder mit der Fassung eines Lebensstiles ausgeschlossen; wir wollen Kultur verstehen als Summe der wahrnehmbaren Bildungen höchster menschlicher Darstellungskräfte und in der Kultur erkennen Ausdruck und Tat, ein Sichtbar-, Greifbar-
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