(Kulturzeitschrift) Oberösterreich, 4. Jahrgang, Heft 1/2, 1954

AUGUST KARL STOGER l-in J<.inJ etwaekt Es war eine gute, stille Nacht, in der der Schlag des Her- z.ens leise und langsam sein durfte ,und das Blut :.üß wie Früh- lingshonig durch die Adern floß . . . und dennoch erwachte Alfred. Eine milde Hand schien alle durch Schlaf und Traum gesponnenen Schleier weggenommen zu haben, so daß er ganz plötzlich wachlag, und die geöffneten Augen den Schimmer der weißen Möbel des Zimmers sahen, vor das Gesicht der Seele aber der kommende Tag trat, mit all dem Wunderbaren, das er bringen sollte: die strahlende Maisonne über dem Wege, der durch Wiesen und Wälder führte, das Jahrmarkttreiben in dem kleinen, z,wei Gehstunden entfernten Wallfahrtsorte, die Schau- buden, Schiffsschaukeln l\lnd die rauschende Blasmusik, alles aber vergehend vor dem Zusammensein mit Gerda, der schö- nen, älteren Stiefschwester. Ein ganzes. Jahr, seit der Vater zum zw.eiten Male geheiratet hatte, war ihr Name vor Alfred genannt worden, ohne daß er sie einmal gesehen hätte, und in dem Garten seiner Einbil- dungskraft waren viele Blumen erblüht: gelb wie die zuckende Neugierde, farblos wie die versteckte Angst, blau wie die hand- feste Freude. Aber als sie kam, als sie dem zweiten Vater den Mund zum Kusse bot und dann den Ifopf des Bruders in beide Hände nahm und ihm in Auge und Herz sah, da waren die krausen Blüten dürr geworden und es wuchs eine Flamme empor, dunkelrot wie jähes Erschrecken und heiße Verehrung. Sie war die folgenden Ta.ge nicht erloschen, war eher voller und höher geworden, und als Gerda den Wunsch äußerte, den Jahrmarkt zu besuchen, als der Vater und ,die Mutter keine Zeit haben wollten, erklärte Alfred, er werde Gerda geleiten. Vater und Mutter hatten ihn beistimmend angesehen, Gerda hatte fröhlich a,ufgelacht, und es schien alles in bester Ordnung. Niemand wußte, daß Alfred mit dem Anerbieten seine Freunde verraten hatte, den hochbeinigen Kurt, welcher der beste Springer in der Klasse war, den älteren Bernhard, des- sen Stimme bereits rauh wie bei Männern aus der Kehle kam, Richard und Max, die seit über einem Jahr im Streite lagen, wer von ihnen der bessere Schwimmer sei. Es war nie möglich gewesen, in der räumlich beschränkten Schwimmhalle der klei- nen Stadt den Kampf endgültig a,uszutragen, es konnte nur im See geschehen, der mit den Fahrrädern zu erreichen war. Alfred hatte den Plan entworfen, es hing von dem Ausgange des Kampfes viel ab, er mußte zeigen, welchem der beiden Gegner die größere Wertschätzung g.ebührte, wessen Wort von nun an gewichtiger zu nehmen war. Alfred kannte den Weg zum See, wußte die Bucht, die durchschwommen werden sollte, hatte die Stoppuhr; ohne ihn war es eine halbe Sache, wenn der Plan überhaupt zur Ausführung kam. Aber Gerda war ge- kommen, und vor ihren seltsamen, dunklen Augen schien das vergangene Tun ein läppisches, allzu kindliches Spiel. Alfred hatte die kühlen, nüchternen Freunde ohne weiteres geopfert ,und tat so jeden Augenblick der kühlen Morgenstunde, die ihm den kommenden Ta,g im v,oraus zu schenken versprach. Er streckte sich im Bett, daß die Brust freilag und das Herz ein paar rasche Schläge tun konnte, es floß das Blut bis in die Spit- zen der Finger und Zehen, und mit ihm strömte eine Welle der Erwartung und Freude durch den ganzen Körper. Alfred schloß die Augen und lag ganz r,uhig. Der Schimmer der wei- ßen Möbel schwand wieder, es schwand allmählich und mit steter werdendem Blute auch das Bild des kommenden Tages, und ehe die Uhr des Speisezimmers d·ie volle Sc,unde schlug, lag der Knabe wieder in tiefem Schlummer. Um acht Uhr klang, wie gewöhnlich an Feiertagen, der Gong durch das Haus und rief seine Bewohner zum Frühstück. Aus der stillen Nacht war ein strahlender Tag gewachsen, er- füllt von flirrendem Lichte und Vogelsingen; das Mädchen hatte im Gartenhäuschen gedeckt. Als Alfred erschien, saßen der Vater und die Mutter bereits in ihren Korbstühlen, der Vater die Zeitung lesend, die Mutter ein Finkenpärchen füt- ternd, das sich auf dem Kieselsande des Gartens her•umtrieb. Auch Gerda kam, sichtlich aus dem Bade, wie das noch feuchte Haar erkennen li~ß. Sie grüßte die Eltern, gab Alfred die was- serkühle Hand und sagte: „Guten Morgen, Alfred. Wir werden einen schönen Tag bekommen." Ein allgemeines Gespräch begann. Gerda wünschte, die Land- straße um der vielen Fahrzeuge willen möglichst zu meiden, die Mutter riet, für das Mittagmahl eigene Speisen mitzuneh- men, um nicht in eines der überfüllten Gasthäuser gehen zu müssen; der Vater sprach von dem Zeitpunkt der Rückkehr und wünschte ihn spätestens um sechs Uhr abends. Eine gute Stunde verging in Rede und Gegenrede, die Eltern und Gerda fragten, Alfre.d antwortete, es stellte sich heraus, daß er die Gegend kannte und ein guter Führer zu werden versprach. Die Sonne rückte noch ein beträchtliches Stück höher, ehe auch der Rucksack Alfreds gepackt war und die Wanderung beginnen konnte. Die Anfangsstrecke des Weges, eine steile, zum Wald hin- aufführende Lehne, gaben die Eltern den Kindern das Geleit. Zum Abschied reichten sie sich die Hände und küßten sich, und der Vater sagte zu A1fred: ,,Bring uns Gerda wieder gut heim!" Der Wald nahm dann die Wandernden auf. Es war alter, weitständiger Fichtenwald mit wenig Unter- holz, in dem man tief hineinsehen konnte •und dessen nadelbe- deckter Boden weich und warm war; es war wieder andfrs, jun- ger Buchenwald, der Hände, Antlitz und Kleider mit grünem Lichte übergoß, daß sie zarte, liebliche Farben annahmen. Der Weg, längst verlassen und vergessen von einstmaligem Holz- fuhrwerk, führte gleichmäßig und ohne Hast durch Licht und Dunkel, bald sich rechts, dann links wendend, bald in sanfter Steigung Höhe .gewinnend und in mildem Abfall wieder tiefer gelangend. Gerda schritt kr,äftig aus und war dem weggewohn- ten Knaben ein angemessener Gefährte. Sie trug den Kopf frei und. hoch, die Lippen waren geöffnet ,und tranken in vollen Zügen die morgenkühle Waldluft. Alfred, neben ihr herschrei- tend, hörte die leisen Laute des Entzückens über ein Sonnen- spiel, eine Blume am Wegrand oder einen Vogel im Geäst. Er war stolz, hielt sich gut und reichte beinahe an Gerdas Größe heran. Geschah es, daß sie vora,us war, dann sah er nach ihrem Nacken, den unbedeckten Armen, der :weichen Wölbung der Brust, nach den Beinen, die sich unter dem leichten Leinenstoffe '?5

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