(Kulturzeitschrift) Oberösterreich, 4. Jahrgang, Heft 1/2, 1954
Ein Haiku tinterscheidet sich von anderen Gedichten durch die Weise, wie es einen dichterischen Impuls auffängt und weiterreicht; im übrigen ist es ein Gedicht (nach seiner inneren Gestalt ein fertiges ) wie irgend ein anderes. Die wenigen Worte, aus denen es besteht, wollen andeutend den Durch- blick um-schreiben, sie sind gleichsam ein Fenster in den Innen- kosmos; · ein Tautropfen, de.r Welt und Himmel spiegelt; ein Tropfen in der hohlen Hand, aus dem gestaltlos Fließenden geschöpft für ·einen kurzen Augenblick - und so der Traum der Welt, derin „der Augenblick ist Ewigkeit". - Die Worte und die Pausen zwischen ihnen (die hier vielleicht noch mehr bedeuten als die Worte selbst), sind so gesetzt, daß sie im Hören- den mit sanftem Anschlag eine lyrische Bewegung nur aus- lösen, daß sie in ihm eine Saite zum Klingen bringen auf eine Weise, die andere Saiten zum Mitschwingen einlädt. Der Ver- lauf dieser Bewegung ist zwar durch die drei Zeilen gelenkt, aber kaum beschränkt, keine Deutung wird vorweggenommen. Der Hörende selbst ergänzt und vollendet. Ein Haiku hat also in besonderem Maße die Aufgabe oder die Tugend, die schöpferische Teilnahme des Lesers zu wecken. - Das einzelne Wort hat hier sozusagen mehr zu tragen als etwa in einem strophischen Gedicht, es gewinnt vielleicht in dieser Ver-dichtung etwas von seiner ursprüng- lichen Fülle zurück, es hat wenig Nachbarschaft, wenig, worauf es sich stützen könnte. Es ist nicht umrauscht von einem rhyth- misch schwingenden Strom, im Verbande so weniger durch inneres Gesetz, Klangbild und freilich auch Rhythmus zu- sammengehaltener oder auch ver-haltener Worte ist das ein- zelne nahezu „ausgesetzt". - Ein paar Striche, aber sie müssen genügen, auch das scheinbare Nichts sichtbar zu machen. Kein Beiwerk, kein Schwelgen und Schwärmen, kein Tönen und Rauschen, keine große Gebärde. Nur Winke! Ein Haiku for- dert vom Autor Zucht und Verzicht. Nichts als das Wesentliche soll gesagt sein, die persönliche Aussage, die Person überhaupt wird belanglos, sie opfert sich in das Wort. Wenn es geglückt ist, spürt man schon, was es war; nicht wichtig ist, wer es er- lebte. - Die Luft schwirrt eigentlich immer von Haikus, aber nicht immer kann man sie fangen! Ein Haiku ist auch eine leise, vielleicht um so eindring- lichere Mahnung, immer im Kleinen das Große zu sehen und nur das Wesen zu suchen. Ist da nicht ein geheimer Zusammen- hang ? Wittert nicht da von ferne ein Hauch des „sanften Ge- setzes" herein ... ? Keine Kulissen, keine Kostüme, kein lyri- sches Arrangement - es steht nur da in seiner Bedeutung, es steht (wie jedes Kunstwerk) für etwas anderes, ist Zeichen für das Unsägliche. Es ist auf geheimnisvolle Weise selbst auch dieses andre, weil es Verdichtung, Form, Geschöpf ist. Ein Haiku ist im Grunde (und die japanische Literatur- geschichte beweist es) nicht nur eine literarische Form, sondern auch eine Haltung, ein Bekenntnis, eine Lebensweise, ein Stil. Ein Haiku-Dichter verfaßt nicht nur seine schmalen Gedichte, er lebt sie auch, ohne zu dichten. Er weiß um das Schweigen, aus dem alle Worte kommen, in das alle Worte wieder ein- gehen, er selbst ist nichts anderes als sein Wort. Das Japanische, eine kurzsilbige, gedrungene Sprache, die über eine Unzahl beziehungs- und bedeutungsvoller Worte ver- fügt, in welcher der Name wirklich noch das Ding und nicht nur einen Schatten beschwört, kommt einer solchen Form natürlich sehr entgegen, fördert sie geradezu. Und es ist gewiß nicht von ungefähr, daß die Haiku-Dichtung in Japan auf eine Tradition zurückblickt, die sich bis ins 15. Jahrhundert er- streckt. Es gab Blütezeiten, Zeiten manieristischer Erstarrung, Haiku-Schulen, Zeiten der Erneuerung, und noch heute gibt es über hundert Haiku-Zeitschriften in Japan! Das japanische Haiku, entstanden aus den Anfangszeilen des Uta, einer älteren Gedichtform, besteht aus drei Zeilen mit der Silbenzahl 5-7-5. Diese strenge Form läßt sich in einer abendländischen Sprache nicht festhalten, sie klänge unnatür- lich und gezwungen. Und ein Haiku, noch in der Übertragung, ebenso wie der (nach verwandtem, aber sprachgemäß anderem Gesetz gebaute) deutsche Dreizeiler ist empfindlich wie ein Schmetterlingsflügel. Manche Haikus, und das sind vielleicht die bewegendsten, zeichnen sich durch eine überraschende Wendung aus, die 10 hoikus von Durchscheinende Schale, zillernd darin ein 'Iropfea Unendlichkeit . Noch lagl es lcaum.· Die Slür:me schlafen in Blumenlcelc/4en. Belaules Spinnennelz zwischen ziller:nden Rispen: Uer:bit:R dich, Spinne, vor: deinem Wer:/c / Blühen die Reben im Gaden, duflel der: Wein in den Kellern. Jauchzen die Kinder:, so läc/4eln die 'Iolen. So dös ' ich auf dem warmen Slein - mein Haar wird Moos, mein Herz vergeh/. 1 ief innen sch lä gl ein größeres ... Auf dem Boden meines Booles lieg' ic/4, u11d die Welle sc/41ägl ger:uhig lief mir: in die Br:usl. Auf dem Halme die Zikade scl1weigl - ein 'Ir:opfe,,i fälll vom Rand der Zeil. Zwisc/4en den Zeilen der: Rebensch11ür:e glänzen heller: un.d lieller: die Nolen/cöpfe der: Sterne. Der alle Bauer lr:ägl in seiner: Schürze nur: Her:bsllaub. Doch es leuclilel wie alles, lcoslbar:es Geschmeide. Tief unler: den Wipfeln der: Gräser: lag ich. Haln4e und Blumen wuch.sen millen aus meiner: Brusl. Mit Erlaubnis des Autors entnommen dem Büchlein: Karl Klei11schmidt: Der schmale
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