(Kulturzeitschrift) Oberösterreich, 1. Jahrgang, Heft 4, 1951

Es war in einem auch heute noch recht ab- seits gelegenen Dorfe, wo ich die Geschichte vom blinden Peter erfuhr. Als sie mir Konrad, der Bildschnitzer, mit seinen unbeholfenen und wenig beredten Worten mitteilte, machte sie kaum Eindruck auf mich. Ach, die Tage waren ja damals so erfüllt mit Lebenslust und Som- merfreude und das Nächste trat so vor das Gegenwärtige, daß keine Weile blieb zum Sin- nen und einem Gedanken nad12uhängen. Doch heute, als ich an einem Mann, der mit der gel- ben Binde und den schwarzen Punkten mit dem Kreuz darauf gekennzeichnet war, dieselbe Ge- bärde sah wie damals, durchzuckte es mich bei- nahe und ließ mid1 nicht eher los, bis ich die Erzählung des jungen Konrad zu Ende gedacht hatte. Der Bildschnitzer hatte mir eine Krippe ge- wiesen, das Erbstück seiner Vorfahren, in die er, neben die alten Figuren, seine eigenen neuen hineingestellt hatte. Ich schmeid1elte mir, alle diese legendären Gestalten beim Namen zu ken- nen, war ich doch schon als Kind mit einer Krippe aufgewachsen : da war der „Urban mit der Leinwand", der „Hirtenschlaf" und das nach der rührend-flehentlid1en Bitte zubenannte Paar eines Vaters mit seinem vor Ungeduld und Neugierde brennenden Söhnlein. Doch diese Gestalt hier, die jetzt im Funsellid1t einer Kerze fast mystisch angestrahlt war, hatte ich noch nie gesehen. Es war ein Greis mit wallen- dem Bart und Haupthaar, der die Hände vor sich hingestreckt hielt und mit weit aufgeris- senen, aber glanzlosen Augen gleichsam ins Un- endlid1e starrte. Der Zug um seinen Mund war so ergreifend, so wissend, so jenseitig, so er- haben über das Unmittelbare, daß id1 sowohl erstaunt über den Rang solchen Kunstwerks als über die Bedeutung seiner Aussage fragte, wer es sei. ,,Der blinde Peter", war die Antwort, ,,und seine Geschichte", so fuhr Konrad fort, ,,ist diese:" (- Ich werde mich jetzt recht be- mühen, sie nach Sinn und Wortlaut getreu zu erzählen und bitte um Vergebung, wenn mich die eigene Phantasie ein wenig mitreißen sollte.) „Bevor das Heil auf die Welt gekommen war, lebte im Gelobten Lande ein Hirte namens Peter. Nichts unterschied ihn von den übrigen Schäfern der herdenreichen Fluren, als daß er ein wenig nachdenklich und hintersinnig war. Er kroch am Morgen aus seinem Zelt, pfiff seinen Hund herbei, sammelte das Rudel und wanderte mit ihm in sd1attiges Gelände, wo würzige Gräser ·wuchsen. Mittags molk er ein Lamm, nahm ein Stück Ziegenkäse aus seiner Tasche und wenn er Glück hatte, gab es aud1 einen Fladen Brot. Waren aber abends die Sd1afe in den Pferch getrieben und saßen die Hirten dann am Feuer beisammen, so konnte es sein, daß sich Peter abseits hielt und in das Sinken der Sonne starrte, wenn ihre rote, glei- ßende Scheibe hinter den Bergen von Beth- ?8 !ehern versank. Immer öfter sonderte sich Pe- bei, der gleid1falls bresthaft war, aber sehen ter ab und immer deutlicher kam sein wunder- konnte. Dieser nun, Daniel mit Namen, trotz liches Wesen zum Vorschein. Die anderen Hir- seines Leidens ein fröhlicher und herzhafter ten nannten ihn dann hochmütig und stolz und betrachteten ihn als Einzelgänger mit scheelen Augen. Niemand freilich wußte, wie sehr Peter unter seiner eigenen Art litt und wie sehr er sich unter ihrem Befehl verzehrte. Ihm näm- lich war es aufgetragen, hinter die Dinge zu sehen und nach ihrem Ursprung, ihrer Bedeu- tung und ihrer Bestimmung zu forschen . Das Warum und Wozu alles Seins traf ihn täglich und stündlich wie mit Peitschen und jagte ihn, solange er noch zu jagen war. Da er aber nicht lesen und keinen Umgang mit weisen und ge- lehrten Männern pflegen konnte, mußte er mit seinem Fragen selber fertig werden. Groß war das Land um ihn mit bleichem Gestein und gelbem Sand; der Mond, wenn er in kühlen Nächten darüber ging, hob es in ein weltentiefes Dasein, das unmittelbar im Ster- nenmeere hing. Die Sonne hatte wenig Leben zu bescheinen, der Gräser und Bäume waren nicht sehr viel, aber was da grünte oder flog, sprang und schritt, das war von ihrer · Huld weithin abhängig. War nicht also die Sonne das Uhrwerk der Schöpfung und die Ursache alles Lebens von Mensch, Tier und Gewächsen? Aber wer stand über der Sonne? Wer zog das Uhr- werk auf? Wer hielt es in Gang und wachte über den Ordnungen? Auf alle diese Rätsel wußte er keine befriedigende Antwort, denn längst hatte er, der alles bezweifelte, den Glau- ben an eine allmächtige Gottheit verloren. So wandte er sich der noch mühseligeren Frage zu, wie weit und mit welcher Gewißheit man denn überhaupt etwas erkennen könne. War das Wirkliche nur das, was fühlbare Lei- den verursachte durch Druck und Stoß und den Widerstand der Oberfläd1e? Oder war dieses Harte und Starre nur trügerischer Schein - nicht vorhanden dem Abgestorbenen und To- ten, unwirklid1 dann, wenn kein Geist ihr Dasein wahrnahm? In dieser Zeit geschah es, daß die Sehkraft Peters immer mehr dahinschwand. Lange währte ein gewisser Zustand, da es ihm vor den Augen noch dämmerte, aber schließlich er- losch auch dieser sanfte Schein. Peter war blind geworden. Doch anstatt sid1 seines inneren Lichtes zu besinnen und Erleuchtung von der Glut des Herzens und der Flamme des Geistes zu suchen, taumelte er die Stufen menschlicher Verzweiflung und Ohnmad1t tiefer und tiefer hinab. Am Grunde seines Sturzes aber brodelte der Haß und die Auflehnung gegen se,in So-in- die-Welt-geworfen-sein und verdüsterte selbst die über den Horizont seiner Seele hereinblit- zenden Erkenntnisse. Die Hirten hatten wenig Mitleid mit ihm. Da sie ihn aber auch nicht der Verwahrlosung preisgeben wollten, gaben sie ihm einen Knaben Gesell, führte den Blinden, wenn es nötig war, und unterhielt sich auch mit ihm auf seine un- widerlegbare und unvoreingenommene Art. Mand1mal mußte da Peter aufhord1en, wenn Daniel ein Ereignis sd1ilderte und Ursache und Wirkung im einfachsten Zusammenhange sah. Alles war für ihn ein Wachsen und Entfalten, strebte seiner eingeborenen Vollkommenheit zu oder entfernte sich wieder von ihr. Daniel kannte keine schroffen Gegensätze und nackten Tatsachen, wie er sie gefordert hatte. Das Sicht- bare war ihm Übergang, Stufe und Gleichnis, Erlebnis und Wirklichkeit, Sein und Seele wa- ren für ihn noch ungesd1ieden und eins. Aber dieser Junge flunkerte nicht. Er sah die Welt ohne Brille mit den klaren Augen eines Berg- hirten, der sich nicht täuschen und hinters Licht führen läßt. - Zu diesem Burschen, der nichts anderes wollte, als sich an dem armseligen Dasein erfreuen und Heiterkeit und Frohsinn seinem ihm vom Sd1icksal auferlegten ~egleiter mitzuteilen, faßte der blinde Peter ein heim- lid1es Vertrauen. Es sank wie eine brennende Fackel in den dunklen Brunnenschacht seiner Seele und weckte gute Geister auf. Allmählich tastete er sich aud1 wieder über den engen Kreis seiner Selbstbescheidung hinaus und er fand den Weg zum Menschen. Wäre es denn möglich, daß andere außer ihm etne Gewißheit über die rätselhafte Welt er- langt hätten? Gab es nicht Weise, Seher und Propheten, die behaupteten, sie hätten den rechten Weg und die wahre Erkenntnis gefun- den? Also befahl Peter Daniel, ihn zu den Schriftgelehrten zu führen, auf daß er das Wort vernähme. Peter hörte viel, aber er schwieg. Seit er dem Geist als Weiser zu Erkenntnis vertraute, der im Wort und in der Sprache wehte, war ihm ein drittes Tor aufgestoßen worden und der gähnende Abgrund einer offe- nen Frage tat sich ihm abermals auf. Das Wo- her hatte sich ihm zum Wohin gewandelt und nun, nachdem sich schon die leeren Bälge seiner Fragen mit schwellendem Geist aufzufüllen be- gonnen hatten, stand er wieder vor dem Nichts. Wozu sind wir auf dieser Welt und wohin leben wir? Was führt uns aus diesem Elend heraus? In diesen Tagen wurde in den Schulen und, Tempelhallen viel von dem Messias gesprochen, dem Sohne Gottes, der da kommen sollte, um die Menschheit von ihrem Elend zu erlösen. War es möglich, daß sich der Sinn des Men- schendaseins in der Zeit, in dieser Zeit, erfüllte? Und Peter, hellhörig, ja, fast möchte man sagen, hell5ichtig geworden, beachtete die Zei- chen, die sid1 ringsumher, in seiner Welt zwi- schen Bethlehem und dem Gebirge von Juda kundtaten.

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